Blick ins Dunkle

Viele der so genannten Seltenen Erkrankungen gelten immer noch als unheilbar. Doch werden in den letzten Jahren massive Fortschritte bei deren Erforschung erzielt.
Infografik_seltene-Krankheiten
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Kerstin Mitternacht Redaktion

Eine Frau geht die Straße entlang, erschrickt, wird steif und fällt wie ein Baum zu Boden. Dieses Szenario kann Anne Gehler zustoßen. Sie leidet an einer nicht-dystrophen Myotonie, einer sehr seltenen Muskelerkrankung, bei der es zu Muskelsteifigkeit nach plötzlichen Bewegungen oder Erschrecken kommt. „Nur etwa 500 Personen leiden in Deutschland an der Muskelerkrankung, die angeboren und nicht heilbar ist“, berichtet Gehler, Gründerin des Vereins „Mensch und Myotonie“.
Bis Gehler die richtige Diagnose erhalten hatte, hat es einige Jahre gedauert: Erst nach einer molekular-genetischen Blutanalyse nannten die Ärzte ihr ihre aktuelle Diagnose: Natriumkanal-Myotonie. So oder so ähnlich geht es vielen Patienten mit einer Seltenen Erkrankung: Nach vielen Arztbesuchen gibt es mit etwas Glück die richtige Diagnose und im besten Fall eine Therapie. Oft aber verlassen Betroffene das Arztzimmer zwar mit einem Befund, aber ohne Behandlungsmöglichkeit.
„Im Durchschnitt dauert es heute mehr als zehn Jahre, bis ein Patient eine Diagnose für seine Leiden erhält und dann auch die richtige Therapie“, berichtet Prof. Georg Hoffmann, Sprecher des Vorstandes am Zentrum für Seltene Erkrankungen in Heidelberg und Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Von einer Seltenen Erkrankung spricht man in Deutschland, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen an dieser Erkrankung leiden. In der Summe sind es etwa vier Millionen Menschen. „Meist kennt jeder jemanden im Verwandten- oder Freundeskreis mit einer Seltenen Erkrankung“, sagt Hoffmann. Zu 80 bis 90 Prozent handele es sich dabei um sehr schwere Krankheiten, die meist genetische Ursachen haben, chronisch verlaufen und schon im Kindesalter auftreten, so Hoffmann.
Dazu gehören zum Beispiel verschiedene Krebsarten, etwa Morbus Hodgkin, ein bösartiger Tumor des Lymphsystems, für den es in den letzten Jahren einige Durchbrüche bei der Therapie gab. Betroffene profitieren mittlerweile von einigen Arzneimitteln auf dem Markt. Auch bei Lysosomalen Speicherkrankheiten, angeborenen Stoffwechselerkrankungen, bei denen genetische Enzymdefekte die Erkrankung auslösen, konnten gute Fortschritte erzielt werden. Anders sieht es etwa bei der durch die Icebuck-Challange in den Blick der Öffentlichkeit gekommenen Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, aus. Diese Erkrankung ist zwar schon sehr lange bekannt, eine Behandlungsmöglichkeit gibt es aber derzeit noch nicht. Bei ALS kommt es zu einer fortschreitenden und irreversiblen Schädigung der Nervenzellen, die für die Muskelbewegungen verantwortlich sind. Auch die Mukoviszidose, unter den Seltenen Erkrankungen, eine die relativ häufig vorkommt und die Lunge betrifft, ist bisher nicht heilbar. Forscher im Verbundprojekt GALENUS, arbeiten derzeit daran, den verantwortlichen Gendefekt dauerhaft zu korrigieren.
Insgesamt ist aus der Forschung aber Positives zu berichten. „Bei vielen Erkrankungen konnten in der Diagnostik und Therapie in den letzten Jahren enorme Fortschritte erzielt werden“, sagt Hoffmann. „Ein Durchbruch war die Genomdiagnostik im Jahr 2002, die zudem kontinuierlich günstiger geworden ist. Dadurch ist auch die Aufklärung bei Seltenen Erkrankungen gestiegen, was für ein besseres Verständnis sorgt und Therapien ermöglicht.“ Allerdings sind die Kosten für Therapien und Arzneimittel oft sehr hoch. „Bei uns in Heidelberg liegen diese teilweise im sechs- bis siebenstelligen Bereich pro Patient und Jahr“, sagt Hoffmann.
Auch Gehler kennt das: „Medikamente, die uns helfen sind in Deutschland vom Markt genommen worden und können nur noch in den USA bezogen werden, aber nicht jede Krankenkassen ist dazu bereit, die Kosten zu erstatten.“ Dabei könnte es sich für Pharmaunternehmen lohnen, ein wirksames Medikament gegen eine Seltene Erkrankung zu entwickeln, da teilweise sehr hohe Preise damit erzielt werden können, so Hoffmann. Allerdings gibt es bei der Erforschung und Entwicklung einige Probleme für Unternehmen, wie Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) berichtet: „Meist sind seltene Krankheiten weitaus schlechter bezüglich Diagnose sowie Entstehung und Verlauf erforscht als häufigere. Dann fehlen Pharmaforschern zunächst die Ansatzpunkte im Krankheitsgeschehen, an denen sie mit neuen Medikamenten ansetzen könnten. Hat man diese dann doch gefunden und möchte ein entsprechendes Medikament erproben, ist es wegen der Seltenheit enorm aufwendig, genügend Teilnehmer für die nötigen Studien zusammen zu bekommen.“ Dies sieht auch Hoffmann: „Es gibt einige gute Ansätze in der Forschung, die nicht realisiert werden, weil die Studien einfach zu teuer sind oder zu wenige Teilnehmer gefunden werden.“
Um die Erforschung und Zulassung von Seltenen Erkrankungen, auch „Orphan Drugs“ (Waisen-Medikamente) genannt, zu fördern und zu erleichtern, hat die EU im Jahr 2000 die Orphan Drug-Verordnung erlassen. In den USA gibt es ein ähnliches Gesetz bereits seit 1983. Die Europäische Kommission vergibt nach einer Prüfung den „Orphan-Drug-Status“, das bedeutet, dass der Hersteller nach der Zulassung eine zehnjährige Marktexklusivität für das Medikament erhält und teilweise bestimmte Gebühren für die Zulassung erlassen bekommt. Auf diese Weise könne die Industrie Arzneimittel entwickeln, deren Forschung ansonsten aufgrund der geringen Anzahl der Betroffenen nicht wirtschaftlich wäre, so der vfa-Experte. „Seit dem Jahr 2000 wird vermehrt an Medikamenten gegen Seltene Erkrankungen geforscht. Deshalb werden auch mittlerweile jedes Jahr zwischen fünf und fünfzehn neue zugelassen“, erklärt Throm. „Mehr als 1.300 Projekte für weitere Medikamente dieser Art sind auf dem Weg.“
Derzeit stehen in der EU 79 Orphan-Medikamente zur Verfügung. Die größte Gruppe mit 41 Prozent sind Medikamente gegen seltene Krebsarten, wie Hodgkin-Lymphome, darauf folgen Medikamente gegen Stoffwechselerkrankungen mit 24 Prozent. Gehler hofft auf einen weiteren Durchbruch. Sie versucht derzeit in ihrem Verein Menschen mit nicht-dystropher Myotonie zusammen zu bringen, so dass sich Betroffene austauschen können.

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