»Digitalisierung is happening«

Von wegen Nachholbedarf! Der deutsche Mittelstand hat Digitalisierung verstanden, bespielt die richtigen Themen und hat – wenn er sich öffnet – große Chancen, die digitale Dividende einzusammeln, die es aktuell noch für Vorreiter gibt...
Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Interview: Julia Thiem Redaktion

... erklärt Prof. Dr. Kai Buehler von der Rheinischen Fachhochschule Köln. Und verweist auf die wichtige Funktion der Digitalisierung für die Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft.

Prof. Dr. Kai Buehler
ist Professor für Digital & Sustainable Entrepreneurship, Digitale Transformation und Start-up Management an der Rheinischen Fachhochschule Köln. 2000 baute er sein erstes eigenes Start-up zu einem der führenden Anbieter von mobilen Entertainment-Diensten auf. 2005 bis 2016 lebte er als Gründer in New York, im Silicon Valley und in Los Angeles. Als Angel Investor ist er zudem an zahlreichen Tech-Start-ups in den USA und Deutschland beteiligt.

 

Herr Professor Buehler, es heißt immer, der deutsche Mittelstand habe so viel Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung. Wo steht er aktuell?
Wir haben vor drei Jahren das erste Mal unsere Studie „Digitale Dividende im Mittelstand“ veröffentlicht, vor zwei Jahren haben wir uns als Studienschwerpunkt dann die digitalen Vorreiter im Mittelstand genauer angeschaut. Die zentrale Erkenntnis beider Studien: Digitalisierung ist mittlerweile überall angekommen. Die große Kluft, der große Nachholbedarf, den man einige Jahre zuvor noch gesehen hat, ist nicht mehr gegeben. Vor drei Jahren haben noch 60 Prozent der Befragten gesagt, wir müssen uns mal auf den Weg machen. Mittlerweile sagen 90 Prozent, wir sind unterwegs oder schon sehr weit fortgeschritten.

Helfen Sie uns mit einer Definition: Was heißt sehr weit fortgeschritten?
Im Rahmen der Erhebungen haben wir den digitalen Reifegrad anhand von neun verschiedenen Dimensionen gemessen – unter anderem, wie digitale Prozesse, Kundenerlebnisse, Produkte oder Services ausgelegt sind. So haben wir beispielsweise auch geschaut, ob es im Unternehmen einen Chief Digital Officer oder eine ähnliche Position gibt, also ob und wie Digitalisierung strategisch verankert ist.

Wie können Unternehmen die Digitalisierung auf strategischer Ebene verankern?
Aus meiner Sicht gibt es hier zwei Dimensionen: Das ist zum einen die Customer Experience. Wie schaffe ich durch digitale Lösungen neue Kundenerlebnisse? Die andere Dimension befasst sich mit den internen Prozessen, also mit Fragen nach Vereinfachung oder einer höheren Effizienz. Wenn ein Unternehmen Digitalprojekte umsetzt, können die demnach entweder stark Effizienz getrieben sein – ich nenne es gerne operative Exzellenz – oder aber die Kundinnen und Kunden stehen im Mittelpunkt, etwa indem ich anstatt die unliebsamen grünen oder gelben Gummibären auszusortieren, mir digital genau die Tüte vorselektiere, in der nur rote Gummibären drin sind. Und in unseren Studien haben wir festgestellt, dass Unternehmen, die beide Dimensionen bedienen, erfolgreicher sind. Hier zeigt sich eine eindeutige Korrelation: Je digitaler meine Prozesse, Produkte, Services sind, desto erfolgreicher bin ich als Unternehmer gemessen am Gewinn und am Umsatz – und zwar bis zu 20 Prozent. Das ist schon eine wesentliche Größenordnung. In anderen Worten: Digitalisierung lohnt sich.

Setzen Unternehmen denn auf beide Dimensionen?
Die meisten Unternehmen in Deutschland realisieren tatsächlich eher Effizienz-Projekte. Prozessoptimierung scheint zunächst wichtiger. Die weiteren Absatzkanäle oder direkte Kundenkommunikation über digitale Lösungen kommen dann erst in einem zweiten oder dritten Schritt.

Ist das nicht auch ein logisches Vorgehen?
Grundsätzlich ja, allerdings zeigen unsere Ergebnisse eben, dass es sich lohnt, das Risiko einzugehen, beide Dimensionen parallel zu bespielen – auch, weil das eine nicht unbedingt das andere bedingt.

Wenn wir bei Ihrem Gummibären-Beispiel bleiben: Muss ich als Haribo nicht zunächst meine internen Prozesse digitalisieren und optimieren, um überhaupt in der Lage zu sein, individuelle Tüten mit ausschließlich roten, gelben oder grünen Gummibären produzieren zu können?
Da haben Sie natürlich Recht. Es kommt tatsächlich darauf an, wie das digitale Kundenerlebnis gestaltet werden soll, und abhängig davon müssen zunächst die Rahmenbedingungen geschaffen werden, was eine vorgelagerte Prozessoptimierung und Effizienzsteigerung bei internen Prozessen erfordert.

Gibt es auch Beispiele, wo der umgekehrte Weg Sinn macht?
Absolut. Denken Sie an die automatischen Kassensysteme in Supermärkten. Dieser Self-Check-out ist als Kundenerlebnis konzipiert, weil das Schlangestehen an der Kasse idealerweise entfällt. Gleichzeitig lernt der Lebensmittler sehr viel über das Kaufverhalten seines Kundenstamms und kann anhand dieser Erkenntnisse die internen Prozesse wie den Einkauf, die Logistik oder den Warenbestand optimieren.

 

Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante
Illustration: Marcela Bustamante

Das klingt so, als sei Digitalisierung manchmal auch ein Weg, dessen Ziel die Unternehmen beim Startschuss noch nicht unbedingt kennen…
So ist es auch. Unsere Studienergebnisse zeigen: Effizienzprojekte sind in der Regel die Ausgangslage. Damit starten die meisten Unternehmen in Deutschland. Das daraus ein Customer-Experience-Projekt werden könnte, also die Verkettung, die Sie gerade angesprochen haben, wird selten gesehen. Es ist tatsächlich noch ein Entweder-Oder. Und genau deshalb haben die Unternehmen, die beide Dimensionen angehen, auch diese großen Vorteile: Denn die Kombination aus veränderten, digitalen Prozessen und neuen Kundenerlebnissen führt zu größerem Erfolg, wie wir belegen konnten.  

Jetzt haben Sie sich in Ihrer zweiten Studie gezielt die digitalen Vorreiter angeschaut. Was war hier die zentrale Erkenntnis?
Wir haben versucht, die Erfolgsformel der Unternehmen zu extrahieren, die schon mit digitalen Prozessen und Services gestartet sind – was für den Großteil des deutschen Mittelstands gilt. Die Fragestellung war also: Wie macht man es richtig? Effizienz und Effektivität – die Dinge richtig tun und die richtigen Dinge tun. Und die Quintessenz ist klar: Je offener Unternehmen nach außen sind – Stichwort Open Innovations – desto erfolgreicher sind sie auch.

Haben Sie ein Beispiel für uns?
Da gibt es verschiedene Stufen. Ein erster Schritt ist sicherlich der klassische Innovation Hub, wo externe Start-ups gemeinsam mit etablierten Mittelständlern an neuen digitalen Lösungen arbeiten. Der nächste Schritt wäre dann das Corporate Venturing, also die Beteiligung an Start-ups oder sogar die Ausgründung eigener Start-ups. Was ich an der Erfolgsformel „Kernkompetenzen + Neudenken + Öffnung nach außen = größerer Erfolg“ so spannend finde: Sie zeigt, dass Digitalisierung, also die Suche nach neuen Innovationen, eben auch neue Herangehensweisen und Denkansätze erfordert. Und das gelingt selten allein, weshalb die Unternehmen, die ein entsprechendes Ökosystem kreieren, erfolgreicher sind.

Zusammenarbeit, Kollaboration und Partnerschaften werden also wichtiger?
Das zumindest bestätigen unsere Studienergebnisse.

»Open Innovations«

Entwickelt wurde das Konzept offener Innovationen, wen wundert’s, von einem Amerikaner, genauer gesagt vom Wirtschaftswissenschaftler Henry Chesbrough. Die Theorie dahinter ist einfach: Je größer der Wissens- und Ideenpool, desto größer auch die Chance, innovativ zu sein, neue Produkte, Services und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Und genau deshalb sollten sich Unternehmen öffnen – für Start-ups, branchenfremde Unternehmen, aber auch für den Wettbewerb – um ihr Innovationspotenzial zu nutzen. Das Open-Innovation-Konzept soll quasi der allseits bekannten „Betriebsblindheit“ vorbeugen.

Ist das nicht aber genau ein Aspekt, vor dem sich viele Unternehmen regelrecht fürchten, weil es zum einen an Fantasie fehlt, zum anderen aber auch, weil die Verantwortlichen durch eine zu starke Öffnung ihre „Felle davonschwimmen sehen“?
Das mag sein. Es gibt aber auch eindrucksvolle Beispiele, wo Unternehmen dieses vermeintliche Risiko eingegangen sind und mit Erfolg belohnt wurden.

Haben Sie ein solches Beispiel parat?
Ich denke da an den Landmaschinenhersteller Claas, ein sehr innovativer Mittelständler, der früh verstanden hat, dass er in einer digitalen Welt nicht mehr nur Traktoren verkauft, sondern Ökosysteme – also Technologie, bei der sich auch andere Hersteller und Anbieter einbringen können. Somit wird echter Mehrwert für die Nutzer – in dem Fall die Landwirte – geschaffen, weil die eben nicht nur die Maschinen einkaufen, sondern zusätzliche Informationen bekommen: Wann sollen sie rausfahren, wie sollen sie rausfahren und was sollen sie bestellen.

Verlieren Unternehmen nicht aber ihren Wettbewerbsvorteil, wenn sie sich für andere öffnen? Eintrittsbarrieren waren bislang durchaus ein Vorteil in einem Markt.
Genau das ist Disruption oder kreative Zerstörung. Das sehen Sie aktuell in jeder Industrie. Wenn es Effizienzgewinne gibt, werden die auch früher oder später realisiert. Unternehmen können versuchen, sich dagegen zu wehren. Ich bezweifle aber, dass sie damit langfristig Erfolg haben.

Womit wir ganz klassisch bei der Plattformökonomie wären…
Genau darauf zielte das Beispiel Claas ab. Wobei klar ist, dass es natürlich wesentlich attraktiver ist, derjenige zu sein, der die Plattform betreibt, als nur ein Anbieter von vielen, der dort vertreten ist. Das Prinzip des First Mover Advantages gilt also nach wie vor – gerade für die Plattformökonomie. Wobei das Thema Interoperabilität kein ganz neues ist.

Worauf spielen Sie an?
Ich denke da an die Jahrtausendwende und die Telekommunikationsanbieter. Für heutige Generationen vermutlich kaum vorstellbar, aber damals wurden mit der Frage, ob eine SMS vom Mannesmann-Netz – heute Vodafone – in das Telekom-Netz verschickt werden kann, die Weichen für Interoperabilität gestellt. Aus meiner Sicht hat sich genau an dem Punkt das Kundenbedürfnis durchgesetzt. Denn damals wie heute möchte ich mit Freunden und Familie kommunizieren können. Bei welchem Anbieter die sind, ist für mich als Kunde nebensächlich.

Wie finden sich in dieser neuen, digitalen Welt Ökosysteme und in welcher Größe?
Da gibt es verschiedene Ansätze. Ich kann als Unternehmen beispielsweise vorrangig an die Optimierung meiner Prozesse und der Wertschöpfungskette denken. Wie kann ich Partner finden, die mir auf dieser Ebene helfen und mir Mehrwert bringen? Ein zweiter Weg ist der Fokus auf Technologietrends. Aktuell können dies Technologien wie Drohnen, das Metaverse oder auch die Blockchain sein. Hier überlege ich, wie mein Geschäftsmodell von diesen Technologie-Entwicklungen profitieren und auf dieser Basis ein passendes Ökosystems zusammengestellt werden kann. Ein dritter Weg sind die Industrievertikalen. Dafür schaue ich mich innerhalb meiner Branche nach geeigneten Partnern um. Und dann gibt es noch sozioökonomische Trends wie Urbanisierung, Dekarbonisierung oder Diversity, die mich mit passenden Partnern zusammenbringen. Bei allen Wegen ist wichtig: Was ist meine Strategie und wie gewichte ich die einzelnen Faktoren? Denn sicherlich gelingt nicht immer alles.
 

Es ist also durchaus möglich, auch mal in einer Sackgasse zu landen?
Wenn Sie dabei sind, neue digitale Services zu entwickeln und Kundenerlebnisse zu schaffen, die es bisher nicht gab, besteht immer ein Risiko, auch mal danebenzuliegen. Vor allem, weil das ein Aspekt ist, wo wir in Deutschland und auch im Mittelstand im internationalen Vergleich noch Luft nach oben haben. Es ist vermutlich unserem Ingenieurs-Erbe geschuldet, dass wir uns hierzulande stark auf Technologien und Produkte fokussieren und weniger darüber nachdenken, wie denn das nächste AirBnB oder Uber aussehen könnte. Denn beides sind nicht gerade Beispiele für den überragenden Einsatz neuer Technologien oder innovativer Produkte.

So wird aus Wissenschaft Praxis

Dass die Wissenschaft nicht nur predigt, sondern auch zeigt, wie es richtig geht, beweist das Verbundprojekt „Fit for Invest“. Hier bündeln die vier größten Kölner Hochschulen – die TH Köln, die Universität zu Köln, die Deutsche Sporthochschule Köln und die Rheinische Fachhochschule Köln – ihre Stärken und machen Start-ups „investitionsfähig“. Das Programm wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mit rund vier Millionen Euro unterstützt. Konkret haben Studierende die Möglichkeit, Geschäftsideen mit Mentoren aus der Praxis auszuarbeiten. Zudem werden auf der Open Innovation Plattform „project cologne“ Challenges mit namhaften Unternehmen wie der Deutschen Telekom, Viega, Microsoft und Rheinenergie durchgeführt.

Wird der deutsche Perfektionismus damit zum Fallstrick?
Perfect is the enemy of good. Stichwort „Minimum Viable Product“: Für das erste Produkt, das man auf den Markt bringt, sollte man sich schämen. Das können die Amerikaner oftmals besser als wir.

Liegt es auch an unserem höherem Sicherheitsbedürfnis?
Das ist jetzt nicht repräsentativ, aber ich frage jedes Jahr meine Studierenden, ob mangelnde Sicherheit ein Grund ist, eine App künftig nicht mehr zu nutzen. Es sind maximal 20 Prozent, für die das ein Grund wäre. Das zeigt mir, dass es auf Konsumentenseite mittlerweile klar ist, dass die Nutzung von Services eben nicht umsonst ist und wenn ich eine Leistung nicht monetär bezahle, ich mit der Preisgabe von persönlichen Daten, respektive mangelndem Datenschutz „zahle“. Sicherheit für Unternehmen – Stichwort Cybersecurity – ist aber natürlich eine ganz andere Geschichte. Hier wird viel investiert und das ist aus meiner Sicht auch richtig und wichtig.

Förderung von Digitalisierungspraxis

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz fördert nicht nur Hochschulprojekte, sondern ganz gezielt auch die Digitalisierung im Mittelstand. Es gibt beispielsweise den Förderschwerpunkt Mittelstand-Digital, wo der Mittelstand über 27 Zentren vor Ort kostenfrei und anbieterneutral mit Expertenwissen, Best Practice, Netzwerken und Erfahrungsaustausch unterstützt wird. Auch „go-digital“ setzt als Förderprogramm mit seinen drei Modulen „IT-Sicherheit“, „Digitale Markterschließung“ und „Digitalisierte Geschäftsprozesse“ auf praxiswirksame Beratung. Dann läuft aktuell auch ein Gründungswettbewerb zu digitalen Innovationen und im Rahmen des Programms „Digitales Europa“ plant die EU ein flächendeckendes Netz von European Digital Innovation Hubs. In Deutschland sollen 14 dieser insgesamt 28 Hubs entstehen. 

Was ist Ihr Appell an den Mittelstand, wo sollten die Unternehmen hierzulande vielleicht noch mal genauer hinschauen?
Insgesamt bin ich in Sachen Digitalisierung in Deutschland sehr optimistisch gestimmt. Hier wird vieles richtig gemacht, vor allem werden die richtigen Themen bespielt. Kurz: Digitalisierung is happening. Ein Megatrend, den ich sehe und von dem ich denke, dass er in Zukunft eine große Rolle spielen wird, ist die Dekarbonisierung der Wirtschaft. Und auch hier spielen Technologien, spielen Daten, spielt Digitalisierung entscheidende Rollen. Die digitale Dividende könnte sich in Zukunft also in eine Klima-Dividende wandeln.