Verwaiste Leiden

Sie sind selten, aber viele: Rund 8.000 Krankheiten zählen zu den so genannten „seltenen Erkrankungen“. Häufig sind sie genetisch bedingt und betreffen bereits Kinder, andere brechen erst im Erwachsenenalter aus.
Illustration: Robert Seegler
Illustration: Robert Seegler
Mirko Heinemann Redaktion

Ihnen gemein ist vor allem eines: Die erkrankten Menschen sind vor Ort meist allein. Oft durchleiden sie regelrechte Odysseen durch Arztpraxen, Kliniken und Selbsthilfegruppen, bevor überhaupt klar ist, woran sie leiden. Ob ihnen dann geholfen werden kann, ist eine ganz andere Frage.

 

»Wenn man Anna (21) das erste Mal trifft, so sieht man der hübschen jungen Frau auf den ersten Blick nicht an, dass sie von einer schweren Krankheit betroffen ist. Doch bei genauerem Betrachten fällt auf, dass ein Schlauch von ihrer Nase in ihren Rucksack führt. Darin befindet sich Annas Lebensversicherung, ein kleiner Tank, der sie mit dem nötigen Sauerstoff versorgt. Denn Anna fällt das Atmen schwer. Sie hat Mukoviszidose, eine nicht-heilbare Stoffwechselerkrankung, die ihre Lunge bereits schwer geschädigt hat. Ihr Lungenfunktionswert liegt derzeit gerade mal bei 30 Prozent. Seit rund fünf Jahren benötigt Anna daher Tag wie Nacht künstlichen Sauerstoff.«


So weit ein Ausschnitt aus der Kampagne „Was ich mir wünsche” des Mukoviszidose e.V.. Der Verein möchte damit über die Erkrankung aufklären. Das ist auch notwendig, denn mutmaßlich haben die meisten Menschen noch nie von dieser angeborenen Stoffwechselerkrankung gehört. Bei Mukoviszidose kommt es zu einem Ungleichgewicht im Salz-Wasser-Haushalt der Zelle. Deshalb enthält der Schleim, der die Körperzellen bedeckt, zu wenig Wasser und wird dadurch zäh. Der zähe Schleim verstopft lebenswichtige Organe wie Lunge, Bauchspeicheldrüse, Leber oder Darm und verursacht dort verschiedene Beeinträchtigungen, Entzündungen bis hin zu Diabetes.

In Deutschland leben bis zu 8.000 Patienten mit Mukoviszidose. Damit zählt diese Erkrankung zu den so genannten „seltenen Erkrankungen”. Als solche werden in Europa Krankheiten klassifiziert, die höchstens eine Person von 2.000 betreffen.

30.000 Krankheiten sind weltweit bekannt. 7.000 bis 8.000 davon zählen zu den seltenen Erkrankungen. Das können Formen von Krebs sein, Erkrankungen des Herzkreislaufsystems oder Stoffwechselerkrankungen. Auch eine Kinderdemenz oder eine Infektionskrankheit wie Tuberkulose oder eine Autoimmunkrankheit wie das Sjögren-Syndrom sind selten. Neue Krankheiten kommen ständig dazu. Der Status „selten” kann sich mit der Zeit oder auch regional ändern. Ein Beispiel hierfür ist die Thalassämie. Diese genetisch bedingte Form der Blutarmut kommt selten in Nordeuropa, aber häufig in den Mittelmeerländern vor. Es gibt auch Krankheiten, die in ihren Haupterscheinungsformen überall häufig sind, in Sonderformen aber selten auftreten.

Etwa 4,3 Millionen Deutsche leiden an einer dieser Erkrankungen – also im Durchschnitt sind das pro Diagnose nur 500 Patienten. Medikamente oder anderweitige Unterstützung gibt es für die Betroffenen nur selten – aus einem einfachen Grund: Die Erforschung lohnt sich finanziell nicht. Sie wurden deshalb auch „verwaiste Krankheiten“, Orphan Diseases, genannt. Medikamente gegen seltene Krankheiten werden auch Orphan Drugs genannt.

Etwa 80 Prozent der seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt, daher machen sich viele schon im frühen Kindes- oder Jugendlichenalter bemerkbar. Bei vielen seltenen Krankheiten können die ersten Symptome schon kurz nach der Geburt auftreten. Andere entwickeln sich erst im Erwachsenenalter. Viele dieser Krankheiten sind lebensbedrohlich oder führen zu Invalidität. Die meisten verlaufen chronisch: Sie lassen sich nicht heilen, die Patienten sind dauerhaft auf ärztliche Behandlung angewiesen.
 

»Sarah ist vier Jahre alt. Einen Großteil ihres jungen Lebens hat sie im Krankenhaus verbracht: Von Geburt an litt das Mädchen an einer sehr seltenen Lungenerkrankung, der pulmonalen Alveolarproteinose. Die Krankheitsursache wurde lange nicht gefunden, Sarahs Leiden konnte nur symptomatisch behandelt werden. Regelmäßig, zuletzt einmal im Monat, musste sie belastende Lungenspülungen im Krankenhaus über sich ergehen lassen, um richtig atmen zu können. Zusätzlich braucht das Mädchen permanent Sauerstoff. Die Prognose: Ohne heilende Therapie würde Sarah in den nächsten zwei Jahren sterben.«
 

(aus: Care-for-Rare Foundation. Pulmonale Alveolarproteinose ist eine seltene Lungenerkrankung. Hauptsymptome sind Luftnot und Husten.)
 

Dazu kommt das Gefühl der Einsamkeit. Eine Diagnose wird häufig falsch oder erst verspätet gestellt. Wirksame Therapien sind rar. Bis die Patienten einen  Mediziner, eine Klinik oder eine Reha-Einrichtung gefunden haben, die sich auf ihre Erkrankung spezialisiert haben, vergeht oft viel Zeit. Wenn kein Glück im Spiel ist, irren Patienten viele Jahre von Arzt zu Arzt. Die Behandlung und Betreuung erfordert von den Patienten und ihren Familien viel Kraft. Sie leiden an einem Mangel an Informationen und praktischer Unterstützung im Alltag. Qualifizierte Facheinrichtungen sind oft schlecht erreichbar.

Betroffene müssen kämpfen In der Schule oder im Berufsleben wird Erkrankten nicht selten vorgeworfen, sie seien Simulanten. Ausgrenzung, mangelndes Verständnis der Umgebung und fehlende Kontaktmöglichkeiten zwischen den oft weit voneinander entfernt lebenden Patienten stellen eine psychische Belastung dar und können zu einem Gefühl der Isolation führen. Mit der Erkrankung gehen oftmals auch Behinderungen einher. Da die Krankheitsbilder und ihre Folgen nicht in die Vorgaben von Kranken- und Pflegekassen passen, müssen die Patienten meistens viele Jahre um bestimmte Leistungen kämpfen.

Die seltenen Krankheiten wurden lange Zeit von Ärzten, Politikern und Wissenschaftlern vernachlässigt, sodass bis vor kurzem weder geeignete gesundheitspolitische noch wissenschaftliche Maßnahmen existierten. Für die meisten seltenen Krankheiten gibt es keine effiziente Therapie, gleichwohl können angemessene Pflegemaßnahmen die Lebensqualität verbessern und auch die Lebenserwartung steigern.
 

»Nach einem Bruch des rechten Handgelenks 2016 wurde leider erst 2017 ein CRPS diagnostiziert. Wenn jede Berührung und Bewegung schmerzt, dann wird der Alltag abenteuerlich. Unterstützung bei meinen alltäglichen Dingen bekomme ich, dank des Vereins „Hunde für Handicaps“ in absehbarer Zeit von meinem speziell ausgebildetem Assistenzhund. Leider werden die Kosten für einen Assistenzhund immer noch nicht von den Krankenkassen übernommen. Ich wünsche mir mehr Ärzte und medizinische Einrichtungen, die sich mit dem CRPS wirklich auskennen. Warum? Weil es jeden treffen kann.«
 

(Anja, aus der Kampagne „CRPS geht alle an”. CPRS, deutsch „komplexes regionales Schmerzsyndrom”, ist eine chronische neurologische Erkrankung) 

Seit 2000 gibt es eine EU-Verordnung über „Arzneimittel für seltene Leiden“ (Orphan Drugs), also Medikamente, die nur einer vergleichsweise kleinen Zahl von Patienten zugutekommen und daher ohne ökonomische Anreize von den Medikamentenherstellern nicht entwickelt und produziert werden würden. Mit der Anerkennung eines Medikamentes als Orphan Drug erhält der pharmazeutische Hersteller Vorteile in Form einer Befreiung von Gebühren, einer beschleunigten Bearbeitung des Zulassungsantrages und eines zehnjährigen Marktexklusivrechts.
 

EU-Verordnung schafft Anreize
 

Durch diese EU-Verordnung wurden seit 2000 etwa 140 zugelassene Orphan Drugs für die Patienten verfügbar. Gegenüber den 7.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen mag diese Zahl klein erscheinen. In vielen Fällen bieten diese Orphan Drugs aber den betroffenen Patienten erstmalig überhaupt eine therapeutische Option und sollen es ihnen ermöglichen, trotz oder auch mit ihrer Erkrankung länger oder zumindest besser zu leben. Erfolgreiche Beispiele dafür sind Medikamente gegen die Muskelerkrankung Morbus Pompe, die Blutkrebsart chronische myeloische Leukämie oder den Lungenhochdruck.

Heute können hunderte seltene Krankheiten durch einen einfachen biologischen Test nachgewiesen werden. Für einige der Krankheiten konnte das Wissen über den natürlichen Krankheitsverlauf durch den Aufbau von Registern erweitert werden. Die Bildung von Netzwerken fördert den Austausch von Wissen und führt zu einer Verbesserung der Forschungseffizienz. Die Gesamtperspektive hat sich verbessert, da in vielen europäischen Ländern durch veränderte Gesetzgebungen und nationale Anstrengungen neue Grundlagen zur Bekämpfung der seltenen Krankheiten geschaffen wurden.
2010 wurde auf Empfehlung der Europäischen Union ein Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) gegründet, in dem sich Akteure des Gesundheitswesens sowie von Patientenorganisationen zusammenfinden. Das Bündnis erarbeitete bis 2013 einen „Nationalen Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ mit dem Ziel, die gesundheitliche Situation Betroffener in Deutschland zu verbessern. Kernelement ist die Entwicklung eines Zentrenmodells in drei arbeitsteilig gegliederten miteinander vernetzten Ebenen (Referenz-, Fach- und Kooperationszentren), mit dem Expertise gebündelt und die Forschung im Bereich Seltener Erkrankungen unterstützt werden soll.
 

»Das habe ich mich wirklich schon oft gefragt: Warum habe ich diese Krankheit bekommen? Aber inzwischen weiß ich, dass es darauf keine Antwort gibt. Mein Arzt und meine Eltern sagen, es ist ganz sicher, dass ich nichts dafür kann. Es hat mich sozusagen zufällig erwischt. Das ist bei manchen Krankheiten so, dass sie einfach kommen, ohne dass man sich irgendwie falsch verhalten hat. Mittlerweile denke ich nicht mehr so viel darüber nach. Ich bin halt so wie ich bin und komme meist ganz gut damit klar. Aber ich will genau verstehen, was in meinem Körper vor sich geht. Deshalb habe ich meinen Arzt schon ordentlich ausgequetscht. Ärzte wissen nämlich schon viel darüber, was im Körper passiert, wenn man so eine autoinflammatorische Krankheit hat.«


(Paula, aus: autoinflammation.de. Autoinflammatorische Krankheiten sind durch Fieberepisoden und andere schubartig auftretende Entzündungssymptome gekennzeichnet.)
 

Fachzentren für Seltene Erkrankungen
 

Die Versorgung in spezialisierten Fachzentren ist für Patienten mit seltenen Erkrankungen von großer Bedeutung. Aufgrund der geringen Patientenzahlen pro Krankheit kann eine qualitativ hochwertige Versorgung nur in spezialisierten Einrichtungen und durch besonders qualifiziertes Fachpersonal erfolgen. Die für Qualität im Gesundheitswesen erforderlichen Mindestfallzahlen lassen sich bei seltenen Erkrankungen nur mit Spezialambulanzen bzw. -zentren erreichen. Zudem muss die klinische Forschung auch länderübergreifend vernetzt sein.

Ergänzend zur medizinischen Versorgung ist die Selbsthilfe immer mehr zu einer zentralen Säule im Gesundheitssystem ausgebaut worden. Selbsthilfegruppen ergänzen das professionelle Versorgungssystem und bieten den Betroffenen zusätzliche Ressourcen durch Erfahrungsaustausch und gegenseitige Hilfe. Deshalb fördert das Bundesministerium für Gesundheit auch die Selbsthilfeaspekte von seltenen Erkrankungen und unterstützt diese Arbeit von Verbänden und Gruppen in verschiedenen Projekten. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass Selbsthilfegruppen nach der gesetzlichen Regelung zur Selbsthilfeförderung von den Krankenkassen unterstützt werden können.
 

Weitergehende Informationen
 

Orphanet
… beinhaltet ein Verzeichnis der seltenen Krankheiten und stellt Informationen zu über 6000 dieser Krankheiten zur Verfügung. Die Datenbank gibt ebenfalls Auskunft über spezialisierte Leistungsangebote aus den beteiligten Ländern des Orphanet-Konsortiums.
www.orpha.net
 

Nationales Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE)
… ist ein Koordinierungs- und Kommunikationsgremium mit dem Ziel, eine bessere Patientenversorgung für Menschen mit seltenen Erkrankungen auf den Weg zu bringen. Dazu bündelt es bestehende Initiativen, vernetzt Forscher und Ärzte und führt Informationen für Ärzte und Patienten zusammen.
www.namse.de
 

Zentrales Informationsportal über seltene Erkrankungen (ZIPSE)
… ist ein Linkverzeichnis, in dem man nach qualitätsgesicherten Informationen zu seltenen Erkrankungen suchen kann. ZIPSE selbst erstellt keine Informationen, sondern verweist auf bestehende Informationsanbieter.
www.portal-se.de
 

Versorgungsatlas für Menschen mit Seltenen Erkrankungen
… ist ein Verzeichnis der Versorgungsmöglichkeiten für Menschen mit seltenen Erkrankungen als interaktive Landkarte oder als Liste.
www.se-atlas.de

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