»Die Kriegsrhetorik ist nicht hilfreich«

Wie können an Krebs Erkrankte mit ihrer Angst und der Krankheit umgehen? Ein Interview mit dem Psychologen Urs Münch.

 

illustration: Josephine Warfelmann
illustration: Josephine Warfelmann
Interview: Mirko Heinemann Redaktion

Herr Münch, warum löst eine Krebsdiagnose derart große Ängste aus?
Solange wir Menschen keine existenziell bedrohliche Erfahrung gemacht haben, sind wir gut darin, den Gedanken emotional wegzuschieben, dass es im Leben keine Sicherheit gibt – außer der, dass wir alle irgendwann sterben müssen. Sobald wir aber diese existenzielle Erfahrung machen, funktioniert dieser Mechanismus nicht mehr. Krebs steht als Begriff in der allgemeinen Auffassung für potenzielles Leiden, für einen Kampf, der oft nicht gewonnen werden kann. Für die Angst zu leiden, dahinzusiechen, zu sterben.

Wie können Patienten und Angehörige mit dieser Angst umgehen?
Es ist wichtig, das Gehirn in einem arbeitsfähigen Zustand zu halten. Angst bewirkt das Gegenteil: Logisches und rationales Denken sind nicht oder kaum möglich. Das ist problematisch, weil in der Situation der Erkrankung viele Entscheidungen zu treffen sind. Es geht zudem um Sachverhalte, mit denen Betroffene nicht vertraut sind. In dieser Situation ist es wichtig, sich Zeit für Entscheidungen zu nehmen – selbst wenn es eigentlich schnell gehen müsste. Solange es keine akut lebensbedrohliche Situation gibt, sollte man sich immer mindestens ein paar Tage Zeit nehmen, über eine Entscheidung nachzudenken und sich hilfreichen Rat einholen.

Was, wenn ich in dieser Situation nicht weiterkomme?
Dann sollten Betroffene und Angehörige fachliche Hilfe hinzuziehen. Es gibt an viele Orten Psychoonkologinnen und Psychoonkologen, die dafür zur Verfügung stehen, in den Kliniken, aber auch ambulant in Beratungsstellen. Sie können helfen, einen Umgang mit der Angst zu finden, damit man wieder Boden unter den Füßen spürt. Bei Angst hilft nicht, sie zu vermeiden oder über sie hinwegzusehen. Hilfreich ist es, sich die Angst genauer anzuschauen, auch mit Unterstützung. Wenn ich der Angst Struktur geben kann, dann kann ich daran arbeiten. Ansonsten bleibt sie diffus und wird eher größer als kleiner.

Wie können Mediziner, deren Zeit häufig knapp ist, den Ängsten ihrer Patienten begegnen?
Dafür sorgen, dass sich Erkrankte und Angehörige auch in ihren Sorgen, Nöten und Zweifeln gesehen und ernst genommen fühlen. Selbst, wenn ich als Arzt oder Ärztin partout keine Zeit habe, kann ich dieses Dilemma transparent machen und gemeinsam nach einer für den Moment hilfreichen Lösung suchen  – etwa hinzuziehen von Fachkräften, den Besuch einer Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe empfehlen. Wichtig ist, dass sich die Betroffenen nicht als Nummer fühlen.

Dazu kommt ein gesellschaftliches Stigma, das mit dem Begriff „krebskrank“ einhergeht. Wie geht man damit um?
Wenn die Erkrankung offensichtlich ist, wenn Erkrankte aufgrund einer Chemotherapie etwa Haarausfall haben, dann erleben Menschen Ausgrenzung oder fühlen sich komisch angeschaut. Wie sie damit umgehen, ist eine Frage des Selbstbewusstseins, das individuell unterschiedlich ausgeprägt ist. Daran lässt sich aber arbeiten. Wenn man ihnen die Erkrankung nicht ansieht, ist das eher eine Frage, wem ich welche Informationen gebe. Die Entscheidung, inwieweit sie im Freundeskreis oder im Kollegium von ihrer Erkrankung erzählen, muss dann jeder und jede selbst treffen. Die zentrale Frage ist: Kostet es mehr Kraft, es für sich zu behalten oder kostet es mehr Kraft, sich wenig hilfreichen bis ungünstigen Reaktionen zu erwehren, wenn man es erzählt hat?

Illustration: Josephine Warfelmann
Illustration: Josephine Warfelmann

Was meinen Sie damit?
Wir haben häufig den Fall, dass sich der Freundes- und Bekanntenkreis nach einer solchen Diagnose neu sortiert. Es gibt Menschen, die kommen mit Krebserkrankungen nicht zurecht, die fühlen sich überfordert und ziehen sich zurück. Andere geben einen gut gemeinten Ratschlag nach dem anderen, der gut gemeint aber nicht hilfreich ist. Und dann gibt es Menschen, von denen man das vielleicht nicht gedacht hätte, aber sie sind auf eine Weise für den Erkrankten da, die ihm oder ihr gut tut. Die Kunst ist es für an Krebs Erkrankte, klar zu kommunizieren, was sie in der Situation brauchen – ohne die Menschen, die helfen wollen, aber nicht wissen wie, vor den Kopf zu stoßen.

Teilweise lässt sich Krebs ja heute schon sehr gut behandeln. Wandelt sich das öffentliche Bild von der Erkrankung?
Nur langsam. Der eine Aspekt ist das Wissen um die Behandelbarkeit von Krebs. Der andere ist das Image. Bis es sich wandelt, wird es noch eine Weile dauern. Es gab vor einiger Zeit einen Artikel in der FAZ am Sonntag unter der Überschrift „Du musst kämpfen“. Darin wurde dargestellt, was diese Kriegsrhetorik mit Erkrankten macht: Sie macht sie einsam, sorgt für Druck und ist nicht hilfreich insbesondere dann, wenn die Lebenszeit wirklich begrenzt ist. Und trotzdem wird diese Rhetorik in allen Medien gebraucht, auch in seriösen: „Er hat den Kampf gegen den Krebs verloren“. Es geht aber nicht um das Gewinnen oder Verlieren, sondern darum, trotz der Krankheit möglichst lange ein sinnhaftes und erfülltes Leben führen zu können.

Welche psychologischen Effekte haben solche Formeln?
Meist sind sie Ausdruck von Hilflosigkeit. Die Kriegsrhetorik wiegt diejenigen, die vorgeblich gesund sind, in trügerischer Sicherheit und stärkt unrealistische Hoffnungen. Aber es gibt keine Garantie im Leben, auch nicht für diejenigen, die nicht von Krebs betroffen sind. Statt einer vermeintlichen Sicherheit oder verzweifelten Hoffnung hinterherzurennen, ist es für Betroffene besser, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren: Ich habe keine Garantie, dass ich in zehn Jahren noch lebe, aber ich kann dafür sorgen, dass es mir im Moment gut geht. Dass ich Dinge tue, die mir Kraft geben und dass ich mich selbstwirksam erlebe.

Wie behält man angesichts des nahenden Todes die Fassung?
In der Regel wechseln sich in dieser Situation verschiedene Gefühlszustände ab, die sich teilweise widersprechen können. Selbst wer schwer krank ist, darf sich Auszeiten von der Krankheit nehmen oder auch mal Hoffnung verspüren. Er oder sie darf traurig sein, Angst haben, auch mal wütend sein. Ein Zeichen für professionellen Unterstützungsbedarf ist es, wenn ein Betroffener in einem Zustand festhängt und nicht flexibel wechseln kann. Meine Erfahrung zeigt mir, dass alle Menschen das Potenzial in sich tragen, mit dem nahenden Sterben umgehen zu können. Es muss sie aber jemand ermutigen und ihnen die Möglichkeit geben, darüber zu sprechen. Wenn es um das Thema Sterben und Tod geht, möchten Angehörige oft nicht gern hinschauen. Oder der Betroffene möchte seine Angehörigen nicht damit belasten. Dann kann es hilfreich sein, eine palliativpsychologische oder
spirituelle Unterstützung hinzuzuziehen.

Urs Münch ist Psychotherapeut, Psychoonkologe und Fachpsychologe Palliative Care in den DRK-Kliniken Berlin-Westend und Ethikbeauftragter der DRK-Kliniken Berlin

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