Im Mai 1710 erlebte Berlin einen kontrollierten Shutdown. Von Nordosten her bewegte sich die Pest auf die Stadt zu. Um die Gefahr abzuwehren, wurden die Stadttore verriegelt. Vor der Stadt wurden ein Quarantänehaus und ein Lazarett errichtet. Heute sind diese Häuser als die Berliner Charité bekannt, ein Campus der gesundheitlichen Maximalversorgung und der Forschung.
Zwar ist Auslöser der Pest ein Bakterium und Sars-CoV-2 ein Virus, aber die Parallele ist augenfällig. Nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland wurden drastische Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung der Infektionen möglichst zu verlangsamen.
In Deutschland scheint dies gelungen. Die Corona-Infektionsrate erreichte Ende Mai 2020 ihren niedrigsten Stand seit Ausbruch der Pandemie. Nach und nach treten in allen Bundesländern, Städten und Gemeinden Lockerungen in Kraft, die nach zweieinhalb Monaten den Alltag der Bevölkerung wieder erleichtern. Auch Krankenhäuser nehmen seit Ende April stufenweise wieder ihren regulären Betrieb auf. Aber ein Status quo ante, also vor Corona, ist nicht in Sicht. Weder im normalen Alltag. Noch in den Kliniken.
„Wir haben bewiesen, dass unsere systemsichernde Infrastruktur alle Erwartungen erfüllen konnte. Wir hatten mehr Potenziale zur Bewältigung der Pandemie als viele andere Länder“, bilanziert Georg Baum, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG). Lediglich seien kleinere Krankenhäuser in den Corona-Hotspots von Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Baden-Württemberg an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen.
„Seit Mitte März erleben wir eine Zeit des Ausnahmezustands“, schildert Ingo Morell, Vize-Vorsitzender des Katholischen Krankenhausverbands (kkvd) und Geschäftsführer der Gemeinnützigen Gesellschaft der Franziskanerinnen zu Olpe (gfo). Er ist für Kliniken an 13 Standorten in Nordrhein-Westfalen verantwortlich, die wie alle Häuser in Deutschland ihre Kapazitäten nach Weisung der Politik auf die Behandlung von COVID-19-Patienten zugeschnitten und die reguläre Versorgung zurückgestellt haben. Innerhalb nur eines Monats halbierten sich so bundesweit die Belegungszahlen aller Krankenhäuser.
Ein Beispiel: Die Berliner Charité bewältigt normalerweise 150.000 stationäre Fälle pro Jahr und 700.000 ambulante Versorgungen. Durch die Umstellung auf die Pandemie wurden etwa 50 Prozent der Operationen abgesagt, die Hälfte der insgesamt 3.000 Betten nicht belegt. „Ziel ist jetzt, auf eine durchschnittliche Bettenbelegung von 70 bis 80 Prozent zu kommen und näher an den Ausgangswert von 85 Prozent wie vor der Pandemie zu rücken“, erklärt Professor Ulrich Frei, Vorstand Krankenversorgung der Berliner Charité.
Der Druck auf alle Kliniken wächst. Jedes nicht belegte Bett, jede nicht durchgeführte Operation, jede ausgesetzte Vorsorge- oder Nachuntersuchung mindert die Einnahmen. „Wir haben unsere Kaufleute zu Anfang der Corona-Pandemie in die Kammer gesperrt“, sagt Frei trocken, „aber nun kommen sie zurück und rechnen uns vor, welche Defizite von Tag zu Tag entstehen.“ Trotz COVID-Entlastungsgesetz des Bundes und den Finanzhilfen für die Kliniken, die ihnen als Ausgleich für Mindereinnahmen gewährt werden, sorgen sich die Geschäftsführungen zu Recht um das wirtschaftliche Überleben ihrer Häuser. „Es bedarf angepasster und bedarfsgerechter Lösungen für Kliniken, die sich maximal auf die Pandemie eingestellt haben, bis sie ihre Einnahmen wieder über die regelhafte Krankenversorgung erwirtschaften können“, fordert Jens Bussmann, Generalsekretär des Verbands der Universitätskliniken. „Wir wünschen uns einen fairen Ansatz und eine Budgetgarantie für das Jahr 2020.“
schnell und flexibel reagieren
Im Gespräch mit Experten wird deutlich, dass momentan keine Klinik zügig in das normale Alltagsgeschäft zurückfinden kann. Denn die Einrichtungen müssen eine Reihe von Auflagen erfüllen, die der Bund vorgibt. Auch können Landesregierungen weitere Vorgaben an die Kliniken machen. Ganz zentral ist, dass rund 30 Prozent der Intensivbetten freigehalten werden müssen, um im Falle einer zweiten Pandemiewelle schnell und flexibel reagieren zu können. „Unser Normalbetrieb bleibt weiterhin durch Restriktionen begrenzt“, fasst Georg Baum knapp die Lage zusammen.
Es sind nicht nur die Auflagen an sich, die das Tempo in den Kliniken bremsen. „Alle Abläufe in einem Haus müssen entzerrt werden. Sei es die Ambulanzsprechstunde, wo sich im Wartezimmer nur noch 20 statt 40 Patienten aufhalten dürfen, sei es die Umgestaltung von Drei- zu Zweibett-Zimmern oder die Besucherführung durch eine Klinik mit einem System von Einbahnstraßen“, zählt Ingo Morell auf und betont, dass es sich dabei um „hochkomplexe Umstrukturierungen“ handelt.
Dauerhaft etabliert sind nun die strengen Hygienevorschriften und das konsequente Testen von Mitarbeitenden und Patienten als wichtige Pandemiepräventionsstrategie. „All dies heißt, dass der Organisationsaufwand für eine Klinik nahezu identisch bleibt wie in der akuten Pandemie-Phase“, so Jens Bussmann. Die Vorstellung, dass wieder und im doppelt schnellen Takt als noch vor der Corona-Pandemie aufgeschobene Operationen durchgeführt werden und ambulante Behandlungen stattfinden können, ist vor diesem Hintergrund unrealistisch. Nach wie vor müssen sich Patienten darauf einstellen, dass Dringlichkeitskriterien für eine Versorgung bestimmend sein werden.
Dringlich ist momentan auf jeden Fall, das Vertrauen von Nicht-Corona-Patienten wiederzugewinnen, die in den letzten Wochen einen Klinikbesuch vermieden haben. „Unsere Behandlungszahlen in den Charité Notfallambulanzen sind in Fällen leichter Herzinfarkte und Schlaganfälle um ein Drittel zurückgegangen, weil Betroffene befürchteten, sich mit dem Coronavirus zu infizieren“, schildert Ulrich Frei. Man müsse jetzt die Öffentlichkeit verstärkt informieren, um Kollateralschäden durch verschleppte Behandlungen zu vermeiden. Er verspricht: „Klinikaufenthalte sind sicher!“
Es kann sein, dass in Kliniken auf längere Zeit eher der Takt eines langsamen Walzers als der eines Quickstepps das Tempo vorgibt. Aber es ist beruhigend zu wissen, dass alle Kliniken mit Bedacht, mit maximaler Professionalität und hohem Engagement vorgehen, um Infektionen unter Mitarbeitenden und Patienten vorzubeugen und eine bedarfsgerechte, gesundheitliche Versorgung für alle hierzulande zu gewährleisten.