Was hat die Bündelung von Verkehrsströmen mit neuen Medikamenten gegen Krebs zu tun? Beides sind Zukunftsaufgaben, bei deren Bewältigung eine große Hoffnung der Experten auf einem Begriff ruht: „Big Data“. Es geht um die Auswertung und Neustrukturierung von riesigen Datenmengen. Algorithmen, die derart komplexe Aufgaben bearbeiten, lassen sich in allen Bereichen einsetzen. So eruieren zum Beispiel Unternehmen, ob Kunden kreditwürdig sind. In der Medizin wird untersucht, welche Patienten besonders gefährdet für bestimmte Krankheiten sind – und wie ihnen geholfen werden kann.
Immer präzisere Prognosen
Neben der Wirtschaftswissenschaft und der Logistik werden in Deutschland vor allem in der Medizin neue Möglichkeiten durch die Zusammenarbeit mit Informatikern erschlossen. „Als zum Beispiel Chemotherapien zur Behandlung von Tumoren entwickelt wurden, hat man die in der Regel an einigen hundert Patienten getestet, danach wusste man, dass die Substanz meistens hilft – aber bei weitem nicht immer“, erläutert Ulf Leser. Der Professor für Bio-Informatik arbeitet mit Kollegen an der Charité zusammen. „Man konnte noch nicht vorhersagen, gegen welche Subtypen von Tumoren eine Therapie bei welchen Patienten wirkt, weil man weder Tumorsubtypen genau unterscheiden noch Patienten genau genug charakterisieren konnte.“
An diesem Punkt sei man nun weiter, so Leser. „Durch die genaue molekulare Analyse sehr vieler Tumore und Patienten können Ärzte heute schon in vielen Fällen individuell abgestimmte Therapien finden und damit die Chance auf Therapieerfolg erhöhen und Nebenwirkungen vermindern."
Doch Big Data meint nicht nur, dass eine große Menge von Daten verarbeitet werde, erläutert Stefan Lessmann, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). „Zur enormen Quantität kommt als weitere Herausforderung hinzu, dass mit Datensätzen gearbeitet wird, die sehr unterschiedlich sind.“ Zum einen gibt es strukturierte Daten. Das können etwa Angaben zu Alter oder Geschlecht sein. Doch auch unstrukturierte Daten, wie Texte oder Bilder, können mittlerweile von Hochleistungsrechnern ausgewertet werden.
„Die Kunst besteht darin, so Lessmann, „aus solch einem großen und bunten Input die relevanten Informationen und Zusammenhänge herauszufiltern.“ Was das bedeutet, verdeutlicht der Wirtschaftsinformatiker am Beispiel eines Sportwagens: „Wenn wir uns auf der Straße umgucken, sind wir uns schnell einig, ob es sich bei einem Auto um einen Sportwagen handelt oder nicht – aber warum?“ Um einen Algorithmus zu entwickeln, der solch eine Frage beantworten kann, muss er die relevanten Merkmale kennen: Ist das Auto zum Beispiel schnell, klein, rot und/oder hat es breite Reifen? „Wir Menschen erlernen solche Zusammenhänge ganz unbewusst und zwar anhand von Beispielen, also Fahrzeugen, die wir sehen“, so Lessmann. „Genau dieses Lernen durch Beispiele ahmen Algorithmen nach, und Big Data liefert die Beispiele dazu.“
Big Data in der Krebsforschung
Was das für die Krebsforschung heißt, erläutert Ulf Leser: „In der Onkologie erzielen wir große Fortschritte, weil in diesem Bereich Veränderungen des Genoms eine extrem große Rolle spielen“, so der Bio-Informatiker. „Wir können Medikamente entwickeln, die auf bestimmte Mutationen in bestimmten Genen abzielen – und damit exakt dort angreifen, wo man die höchste Erfolgschance hat.“ Die Genome zu lesen, ist dabei nur der erste Schritt. „Entscheidend ist die Analyse der Daten“, so Leser. „Dafür braucht es neben leistungsfähigen Rechnern das entsprechende Know-how.“
Doch auch die Erfassung von Daten ist ein zentrales Thema in der Medizin. Wer darf welche Informationen sammeln, einsehen und damit arbeiten? „Bislang gibt es ein Gefälle im Verhältnis zwischen Arzt und Patient, das durch Digitalisierung ausgeglichen werden kann“, sagt Thomas Lilge, der am Interdisziplinären Labor des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik der Humboldt-Universität zu Berlin als wissenschaftlicher Mitarbeiter die Forschungsgruppe „gamelab.berlin“ leitet.
Im Projekt „Empathy“ (Empowerment of the patient in therapy) entwickelt sein Team ein neuartiges mobiles Assistenz- und Navigationssystem für Patienten mit chronischen Erkrankungen und längeren Behandlungsverläufen. Als modulare Plattform mit individuellen Einzelanwendungen konzipiert, setzt es dort an, wo herkömmliche Formen der Dokumentation und Unterstützung versagen. Dabei stellt es die Patienten in den Mittelpunkt. Das Ziel lautet, die Patienten besser zu informieren, sie zu motivieren, unterstützen und aktivieren. Ein digitales Tool soll alternative Möglichkeiten eröffnen. Dabei greifen die Forscher auf Erfolgskonzepte aus dem Game Design zurück, um personalisierte Medizin neu zu denken.
Daten selber sammeln
„Über die eigene Rolle und Erfahrung im Gesundheitssystem nachzudenken, betrifft jeden irgendwann – Mitgestaltungsoptionen der Patienten-Arzt-Beziehung sind damit auch für Nicht-Patienten interessant“, betont Lilge. Viele Menschen verschieben dabei bereits Grenzen, ohne sich dessen bewusst zu sein: wenn sie auf Ihrem Smartphone Gesundheits- und Fitness-Apps nutzen. Quantified Self heißt dieser Trend. „Hierbei ist entscheidend, wer Zugriff auf meine Daten bekommt und ob ich das selbst steuern kann“, sagt Lilge. „Im Krankenhaus und beim Arzt ist das ganz ähnlich.“
Das Bundesgesundheitsministerium hat im vergangenen Jahr eine Studie über „Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps“ in Auftrag gegeben. Darin heißt es: „Der Markt ist aufgrund seiner Größe, Dynamik und wenig regulierten Organisation unübersichtlich. Anwenderinnen und Anwender, die ein zu ihren Vorstellungen passendes Gesundheits-App-Angebot identifizieren wollen, haben mitunter Orientierungsprobleme.“ Hier gibt es also noch einiges zu tun. Mit Bezug auf Kant ist Lilge aber zuversichtlich, dass auch an diesem Punkt Fortschritte möglich sind – und fordert uns auf: „Habe den Mut, Dich Deiner eigenen Daten zu bedienen.“
Sammeln, lernen, erkennen
Big Data Analytics und Predictive Analytics werden ganze Branchen revolutionieren – neben der Logistik, der Industrie und der Finanzwelt ist das vor allem die Medizin.