Nicht zurücklehnen!

Der deutsche Mittelstand ist nach wie vor innovativ. Aber er wird behäbig. Sein größtes Problem ist paradoxerweise die gute Wirtschaftslage – und fehlende Fachkräfte.
Illustration: Sören Kunz
Illustration: Sören Kunz
J.W. Heidtmann Redaktion

In jüngster Zeit hört und liest man immer mehr Geschichten wie die von Malte Günzlaff: Der junge Berliner hatte mit zwei Freunden eine eigene Firma gegründet. Als Anbieter von frisch gepressten Säften waren die Jungunternehmer mit ihren Produkten schon bald im Sortiment der großen Bio-Supermärkte vertreten. Dennoch gaben sie das Geschäft auf. Heute ist der 27-jährige Günzlaff angestellter Marketingexperte eines Start-ups für Flüssignahrung, erzählte er der Berliner Morgenpost. Er sei in große Entscheidungen immer noch involviert, trage aber nicht mehr so große Verantwortung.

Eine typische Geschichte, die viel über die aktuelle Befindlichkeit junger Leute aussagt. Die Gründungsdynamik in Deutschland lässt nach, weil immer mehr das immense Risiko einer Gründung scheuen – auch mangels Notwendigkeit. Denn Arbeit gibt es genug. Wer umgekehrt dennoch gründet, hat es längst nicht mehr so leicht wie früher, gutes Personal zu finden. Die Fluktuation ist groß, Jobsuchende in den Metropolen haben meist eine große Auswahl an Alternativen. Und selbst in Städten wie Berlin, die früher aufgrund günstiger Mieten und einer innovativen Kulturszene kreative Köpfe anzogen, herrscht heute ein „War for Talents“.

Zahl der Innovatoren sinkt
 

Für die Zukunftsfähigkeit des innovativen Mittelstands ist das keine gute Nachricht. Denn seine Innovationskraft lässt nach. Zu diesem Schluss kommt etwa eine aktuelle repräsentative Studie der staatlichen KfW-Förderbank. Demnach ist die Zahl innovativer Unternehmen um 237.000 auf rund 800.000 im Jahr 2015 gesunken – ein Rückgang von knapp 20 Prozent. In ihrer Studie definiert die KfW so genannte „Innovatoren“ unter den rund 3,65 Millionen mittelständischen Unternehmen in Deutschland. Vor allem Kleinstunternehmen verzichten danach vermehrt darauf, neue Produkte oder Dienstleistungen anzubieten. Und der Anteil der Gründer ist, wie eingangs beschrieben, auf dem niedrigsten Stand seit über zehn Jahren.

Das Bundeswirtschaftsministerium relativiert: „Unser Mittelstand ist unser wichtigster Innovations- und Technologiemotor und genießt zurecht auch international großes Ansehen“, erklärte Staatssekretär Matthias Machnig anlässlich der Veröffentlichung einer eigenen Studie im Herbst vergangenen Jahres. Die Studie zeige: Der innovative Mittelstand werde auch weiterhin als Erfolgsmodell „Made in Germany“ gelten. Mittelständische Unternehmen können auch in Zukunft mit ihren bewährten Spezialisierungs- und Nischenstrategien erfolgreich bleiben.

Mit einer Einschränkung: „Um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben, muss sich der Mittelstand aber stets neu positionieren“, so Machnig. Das klingt in der Studie selbst dann noch dramatischer: „Ohne eine mittelfristige Personalplanung werden sie den Wettbewerb um Fachkräfte verlieren“, schreiben die Autoren der durchführenden Prognos AG und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). „Ohne eine frühzeitige Nachfolgeregelung werden sie führungslos dastehen, ohne eine Digitalisierungsstrategie werden sie ihre Prozesse nicht auf die Erfordernisse einer vernetzten globalisierten Wirtschaft ausrichten können. Und genau hierin liegen die Herausforderungen eines auch zukünftig innovativen Mittelstands begründet.“

Mehr Zuwanderung

Was tun? Um das Fachkräfteproblem anzugehen, empfehlen die Autoren unter anderem „eine auf den Fachkräftebedarf ausgerichtete Zuwanderungspolitik“. Unternehmen müssten ihre Rekrutierungskonzepte flexibilisieren und Arbeitsplätze und Ausbildungsstellen für zuwandernde Fachkräfte anbieten. Die Autoren fordern einen „Bewusstseinswandel“ und eine Öffnung, „um den Diversity-Gedanken als positives Element der Unternehmenskultur zu etablieren“.

Überdies müssten neue Potenziale mobilisiert werden – über eine höhere Frauenerwerbsarbeit, eine Steigerung des Anteils Hochqualifizierter unter den Bildungsabgängern und eine forcierte Kompetenzentwicklung der Erwerbstätigen. Gefordert wird auch, dass Unternehmen von einem „erweiterten Kompetenzbegriff“ ausgehen, demnach nicht nur fachliche Qualifikationen berücksichtigen sollten. Weitere Baustellen für die Mittelständler: die Digitalisierung, die strategische Ausrichtung. An die Politik ergeht die Aufforderung, Maßnahmen und Programme der Technologie- und Innovationsförderung zu „verstetigen und zu ergänzen“.

Mit gutem Beispiel voran

Sogar ganz am Anfang des Maßnahmenkatalogs steht die „Awareness“. Alle Stakeholder müssten die Notwendigkeit der Neuorientierung erkennen, sonst drohe Disruption. In diesem Zusammenhang würdigen die Experten Bemühungen von Verbänden oder anderen Institutionen, in ihren Publikationen und auf Veranstaltungen Vorbilder und Beispiele guter Praxis aus anderen Unternehmen zu zeigen: „Unternehmer lernen am liebsten von Unternehmern.“

Oder von Nachbarn? Wenn es um globale Vergleiche geht, dann wird immer wieder die Schweiz genannt. Im Ranking der innovativsten Länder der Welt liegt das Alpenland stets an der Spitze. Jetzt hat es im sechsten Jahr in Folge Platz eins im Global Innovation Index errungen, erstellt von der Johnson Cornell University und der Confederation of Indian Industry. Innovationstreiber sind vor allem, wen wundert's: mittelständische Unternehmen.

Was macht die Schweiz besser? Experten verweisen auf die kleine Lücke zwischen Forschung und Markt. Die Hochschulen belegen Spitzenplätze in internationalen Rankings und fördern gezielt Gründungsideen ihrer Absolventen. Die ETH Zürich, wo Albert Einstein einst Physik lehrte, unterstützt ihre Studierenden bei Patenten und stellt Büros zur Verfügung. Die F&E-Investitionen sind hoch – vor allem die privaten. Mehr als 60 Prozent der Schweizer Gelder für Forschung und Entwicklung kommen aus der Privatwirtschaft und nur rund 25 Prozent aus der öffentlichen Hand. Insgesamt lässt sich eine große Freude am Wettbewerb erkennen.

Deutschland belegt in diesem Ranking Platz zehn, immerhin. Das Land zeichnet sich nach Ansicht der Studienautoren durch seine konstante Innovationsfähigkeit in der Forschung, Entwicklung und der Wissensbildung aus. Dass Deutschland in diesem Jahr in die Top Ten aufstieg, hatte einen guten Grund: Die Gesamtinvestitionen in Forschung und Entwicklung sind gestiegen.

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