Welthandel in der Krise

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat nicht nur eine humanitäre Krise immensen Ausmaßes ausgelöst. Auch die Folgen für den Welthandel sind nach Einschätzung von Experten erheblich. Sie könnten in der nächsten humanitären Krise resultieren. 
Illustration: Napal
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Lara Marie Müller Redaktion

Seitdem Russland am 24. Februar dieses Jahres die Ukraine angegriffen hat, ist die Welt eine andere. Das spüren zuvorderst die zahlreichen Ukrainer, die geflohen sind oder kämpfen. In unserer globalisierten Welt bleibt ein Kriegsausbruch mit besetzten Häfen und unterbrochenen Handelsrouten aber kein lokales Problem – schon gar nicht, wenn er mit zahlreichen Sanktionen einhergeht und ein für viele Grundnahrungsmittel wichtiges Exportland betrifft.
„Der Krieg hat drastische Folgen für den Welthandel“, attestieren Wirtschaftsexperten der Welthandelsorganisation (WTO) in einem neuen Bericht zu dem Thema. Im schlimmsten Fall könnte er eine weitere humanitäre Krise wegen fehlender Warenlieferungen nach sich ziehen.

Aktuell rechnen die Wirtschaftsexperten damit, dass sich das Welthandelsvolumen in diesem Jahr halbieren dürfte. Das bedeutet: Der Wert aller Güter, die weltweit zwischen Ländern oder Wirtschaftsräumen gehandelt werden, wird voraussichtlich gerade einmal halb so groß sein wie im Vorjahr. „Die Kosten aufgrund von weniger Handel und Produktion werden weltweit zu spüren sein“, heißt es in dem Bericht.

Der Grund: Waren, die eigentlich aus Russland und der Ukraine exportiert werden sollten, können entweder wegen Zerstörung oder Sanktionen nicht geliefert werden. Der Krieg sorgt so für höhere Preise, primär für Lebensmittel und Energie.

Diese höheren Preise könnten hauptsächlich für ärmere Staaten zum Problem werden. Dort wird ein größerer Anteil des gesamten Einkommens für lebensnotwendige Dinge wie Essen ausgegeben. Eine drohende Hungerkrise wiederum macht den Menschen Angst – und könnte zu starken Protesten und Revolten führen. „Wir sehen in Entwicklungsländern ein erhöhtes Risiko für politische Instabilität“, schreiben die WTO-Experten.

Mit Blick auf die gesamte Wirtschaft dürften die höheren Energie- und Lebensmittelpreise in sehr vielen Ländern dafür sorgen, dass Menschen sich weniger für ihr Einkommen kaufen können – die realen Einkommen also sinken. „Neben Russland und der Ukraine werden wir vermutlich in fast allen europäischen Ländern mit geografischer Nähe und energetischer Abhängigkeit von Russland starke Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung sehen“, schreiben die Experten.

Während sie damit rechnen, dass sich der Krieg dadurch auch im globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) negativ niederschlägt, dürfte es den Welthandel noch einmal überproportional stark treffen. Denn die Handelskosten steigen aufgrund von Sanktionen, Exportrestriktionen, hohen Energiekosten und Transportschwierigkeiten.
Eine solch düstere Prognose für den gesamten Welthandel kann auf den ersten Blick überraschen. Denn Russland und die Ukraine machen mit ihren Aktivitäten eigentlich nur einen ziemlich kleinen Anteil des gesamten Welthandels aus. Beide Länder zusammengenommen sorgten 2021 für zweieinhalb Prozent des weltweiten Ein- und Verkaufens zwischen Ländern. Auch ihr zusammengerechnetes BIP beträgt gerade einmal knapp 2 Prozent der weltweiten Wertschöpfung.

Das Problem: Russland und die Ukraine liefern wichtige Rohstoffe, die für weitere Handelsaktivitäten anderer Länder essenziell sind. Deswegen haben die Handelseinschränkungen der beiden Länder starke indirekte Auswirkungen auf den Welthandel.

Ein sehr plastisches Beispiel sind Grundnahrungsmittel, die für die Ernährung oder Weiterverarbeitung in anderen Ländern benötigt werden. Russland und die Ukraine lieferten 2019 zusammen circa ein Viertel des weltweiten Weizens und 15 Prozent der Gerste. Bei Sonnenblumen-Produkten wie Margarine und Sonnenblumenöl machte ihr Anteil sogar fast die Hälfte des weltweiten Angebots aus. Das ist vor allem für Ägypten, Libyen und Tunesien fatal, die stark von Lebensmittelimporten aus den beiden Ländern abhängig sind.

Fast noch zentraler für den Welthandel ist das Energieangebot. Ohne Kraftstoffe wie Öl und Gas ist es nicht möglich, Waren über weite Strecken zu transportieren oder große Fabriken zu betreiben. Russland lieferte 2019 fast 10 Prozent der weltweiten Kraftstoffe. Von den globalen Gasexporten kommen sogar 20 Prozent aus Russland. Auch hier sind einige Länder überproportional getroffen. So importiert etwa Finnland 65 Prozent seiner Kraftstoffe aus Russland und die Türkei immerhin 35 Prozent.

Nicht ganz so plastisch ist die Schlüsselrolle von Russland und der Ukraine in industriellen Wertschöpfungsketten. Russland ist etwa einer der größten Exporteure von Palladium und Rhodium. Diese Stoffe werden für die Herstellung von Katalysatoren in der Automobilbranche und für die Herstellung von Halbleitern benötigt. Zudem hängt die Halbleiterproduktion in großem Umfang von dem Edelgas Neon aus der Ukraine ab. Sie liefert normalerweise außerdem viele eher niedrig technologisierte Produkte an die Automobilindustrie – etwa Kabelbäume. Wenn die Versorgung mit diesen Produkten längerfristig gestört wird, bekommt dies auch die Automobilindustrie deutlich zu spüren.

Der Krieg unterbricht viele Handelsbeziehungen, die über viele Jahre hinweg aufgebaut wurden. Wird das so bleiben? Oder werden die Beziehungen bald wieder aufgenommen? Die Ökonomen der WTO haben verschiedene Szenarien modelliert, um abschätzen zu können, wie es für den Welthandel weitergeht. Sie prognostizieren, dass sich der Welthandel im Verlauf von 2022 um 2,2 Prozent verlangsamen wird.

Langfristig könnte es zu einer Fragmentierung oder sogar Blockbildung im internationalen Handel kommen, was den Welthandel langfristig stark einschränken würde. „Und selbst falls es nicht zu einer globalen Blockbildung kommt, dürften viele Akteure ihre Wertschöpfungsketten überdenken und neu aufstellen“, schreiben die Wirtschaftsexperten. Dies würde den Wettbewerb einschränken und Innovation hemmen – und könnte zu einem langfristigen Rückgang führen und rund fünf Prozent des globalen BIP kosten.

„Viele Familien und Firmen müssen ihre Existenz wieder neu aufbauen“, schreiben die WTO-Ökonomen. Dafür sei es wichtig, dass in einer Zeit nach dem Krieg wieder möglichst freier Welthandel stattfinden könne.

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