»Wir müssen lernen, anders zu arbeiten«

Intelligente, horizontale Vernetzung – davon ist man in der Produktion bislang weit entfernt. Die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen zeigt nun, was alles möglich ist.
Prof. Dr. Günther Schuh
Prof. Dr. Günther Schuh; Geschäftsführender Direktor des Werkzeugmaschinenlabors der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Beitrag

Herr Prof. Schuh, alle drei Jahre findet das Aachener Werkzeugmaschinen Kolloquium statt. Im Mai diesen Jahres mit Fokus auf das ‚Internet of Production’. Was verbirgt sich dahinter?
Alle Welt schielt auf das Silicon Valley, dessen ultimative Stärke seine Innovationskraft ist. Das Erfolgsrezept dahinter ist eine horizontale Vernetzung, die uns hier in Deutschland und insbesondere uns Ingenieuren noch fremd ist. Wir denken in Domänen, in Silos, sind hochspezialisiert. Diese Ingenieurskultur finden Sie selbst bei Nicht-Ingenieuren, etwa in der IT. Das Ergebnis sind zig verschiedene Systeme, deren Daten nicht miteinander verknüpft werden können – vermeintlich. Und genau um diese Verknüpfung geht es im ‚Internet of Production’.

Das müssen Sie bitte näher erklären.
Die tiefe Fachkenntnis, mit der wir in Deutschland arbeiten, hat viele Vorteile, aber aktuell behindert uns diese Herangehensweise eher. Wir müssen lernen, anders zu arbeiten. Nehmen Sie den Tesla als Beispiel. Ein Fahrzeug mit einer tollen User-Story, das wir in Deutschland mit unserer Sicht aus den Domänen heraus aber wohl nie gebaut hätten. Denn aus dieser Warte stecken in einem Tesla so viele schlechte Lösungen, dass jeder einzelne Ingenieur mit seinem spezialisierten Blick wohl sofort gedacht hätte, das kann nie klappen.

Sagen Sie, wir müssen Abstriche bei der Qualität zugunsten der Innovationskraft machen?
Nein, ich sage, die Daten, die wir in der Produktion für eine horizontale Vernetzung brauchen, sind da, aber wir machen nichts damit – schon gar nicht Domänen-übergreifend. Das Problem bisher: Die vielen Daten aus den einzelnen Domänen sind auch nur von einem System lesbar. Wenn Sie eine neue Achse für ein Auto konstruieren wollen, kann ein CAD-Konstrukteur die Festigkeitsberechnung beispielsweise nicht einsehen.

Warum klappt diese horizontale Vernetzung im Silicon Valley und in der Produktion nicht?
Weil die Verbraucherwelt eine ganz andere ist. Hier haben sie Massendaten und nur wenige Parameter. Wenn Sie aber Maschinen haben, von denen vielleicht weltweit nur eine Handvoll in Betrieb sind, haben Sie auch nur wenige Daten, dafür ungleich viel mehr Parameter.

Und das ‚Internet of Production’ kann dieses Problem lösen?
Die Lösung ist ein sogenannter Digitaler Schatten. Vereinfacht ausgedrückt wird eine Infrastruktur aufgebaut, über die sie aus den verschiedenen Domänen-Rohdaten Daten herausfiltern, auswählen und aggregieren. Das Ergebnis sind reduzierte Datentorten, die Sie in Echtzeit zu den Rohdaten in die Cloud legen können und auf die so alle Domänen Zugriff haben. In diesem ‚Internet of Production’ kann der CAD-Konstrukteur also auch auf die Festigkeitsberechnung zugreifen. Die Idee ist, so Hypothesen mittels der Daten beweisen zu können. Wir sind aber davon überzeugt, dass so Zusammenhänge sichtbar werden, an die vielleicht noch niemand gedacht hat.

Das ‚Internet of Production’ ist aber nicht die einzige Neuerung, die auf dem diesjährigen Kolloquium vorgestellt wird.
Das ist richtig, wir freuen uns auch, erstmalig unser neues e-Fahrzeug, den e.GO Life zu präsentieren. Auch hier spielt das ‚Internet of Production’ eine wichtige Rolle. Denn uns ist es dank dieser horizontalen Vernetzung gelungen, innerhalb von nur zwei Jahren mit einer, ich nenne sie mal liebevoll Gruppe von Nerds, von denen viele vorher noch nie ein Auto gebaut haben, ein bezahlbares Serien-Elektroauto zu entwickeln – eben dank einer Informationslogistik auf Basis digitaler Schatten. Und deshalb ist der e.GO hoffentlich ein Beispiel für  Maschinenbau und Produktion gleichermaßen, was mit einer Domänen- und branchenübergreifenden Vernetzung alles möglich wird.

www.wzl.rwth-aachen.de


Aachener Werkzeugmaschinen- Kolloquium

„Internet of Production für agile Unternehmen“ lautet das Leitthema des AWK 2017, das vom 18.-19. Mai stattfindet. Das AWK 2017 bietet in parallelen Vortragsreihen mit Fach- und Keynotevorträgen aus Wissenschaft und Praxis verschiedene Ansätze und Strategien zum Internet of Production.

Als besondere Highlights werden das erste mit Industrie 4.0 entwickelte Serienauto, der e.GO Life, vorgestellt sowie das größte produktionstechnische Forschungscluster Europas auf 30.000 m² auf dem RWTH Aachen Campus eröffnet.

Mehr Informationen unter: www.awk-aachen.de

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