Die Biologisierung der Materialien

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Martin Möller vom DWI – Leibniz-Institut für Interaktive Materialien und der RWTH Aachen über neue Entwicklungen in der Materialforschung.
PROF. DR. MARTIN MÖLLER, Foto © Phatcharin Tha-in
Interview: Klaus Lüber Redaktion

PROF. DR. MARTIN MÖLLER ist Inhaber des Lehrstuhls für Textilchemie und Makromolekulare Chemie am Institut für Technische und Makromolekulare Chemie, RWTH Aachen und Leiter des ebenfalls in Aachen ansässigen DWI – Leibniz-Instituts für Interaktive Materialien.

 

 

 

Herr Möller, bei technologischen Innovationen denkt man sofort an Digitalisierung. Dabei spielt für die meisten Neuerungen die analoge Welt nach wie vor eine zentrale Rolle: in Form der Materialforschung.
Richtig. Die Entwicklung neuer Materialien ist historisch gesehen immer ein Haupttreiber für Innovation gewesen. Und dieser Prozess läuft auch heute noch weiter, vor allem deshalb, weil wir immer höhere Anforderungen an Werkstoffe stellen.

 

Was sind das für Anforderungen?
Eines der Hauptziele ist es, Stoffe zu entwickeln, die immer mehr nützliche Eigenschaften gleichzeitig aufweisen – auch und gerade solche, die auf den ersten Blick widersprüchlich zueinander sind. Wir geben uns ja nicht mehr damit zufrieden, dass wir sagen, es muss fest sein. Wir wollen, dass es fest und superleicht ist. Es ist vor allem diese Kombination von bestimmten Charakteristika in einem Material, die gerade für eine hohe Innovationsdynamik in vielen Branchen sorgt.

 

Sie meinen etwa den Leichtbau in der Automobilbranche?
Zum Beispiel. Mit den carbonfaserverstärkten Kunststoffen wurde hier eine Materialklasse entwickelt, die ja genau das leistet: nämlich gleichzeitig fest und leicht zu sein. Wobei wir hier eigentlich schon wieder den nächsten Innovationsschub erleben. Da carbonfaserverstärkte Kunststoffe in Herstellung und Fertigung sehr aufwendig und energieintensiv sind, hat die Industrie inzwischen metallbasierte Lösungen anzubieten, die in bestimmten Bereichen optimaler sind als kunststoffbasierte Materialien. Erste Effekte sehen wir beispielsweise beim Automobilbauer BMW, der aus Gründen der Wirtschaftlich- und Nachhaltigkeit den Carbonfaseranteil in seinen neuen Modellen wieder gegen Metalle austauscht.

 

Ein hohes Innovationspotenzial wird der Materialforschung auch im Bereich der E-Mobilität zugesprochen, etwa beim Bestreben, den Anteil der in der Förderung problematischen sogenannten Seltenen Erden zu reduzieren. Wie weit ist man hier schon vorangekommen?
Man hat es geschafft, in der neuen Generation von Lithium-Ionen-Batterien den Anteil an Kobalt-oxiden drastisch zu reduzieren. Im neuen Design mit sogenannten 811 Anoden ist der Anteil am wesentlich unproblematischeren Mangan achtmal so hoch wie der Anteil an Nickel und eben Kobalt.

 

Ist die immer wieder geäußerte öffentliche Kritik, man würde mit der E-Mobilität vielleicht ein Problem, nämlich den CO2-Ausstoß, angehen, sich dafür aber neue Probleme einhandeln, hinfällig geworden?
Ich glaube, man sollte die Entwicklung in diesem Fall positiv beurteilen. Wir hatten mit Kobaltoxiden eine Lösung, die technisch gar nicht so schlecht war, die aber, als die Nachfrage größer wurde, immer problematischere Effekte zeigte. Es hat sich dann also eine Forderung aus der Praxis ergeben und die Materialforschung war in der Lage, eine Antwort zu geben.

 

Ein weiteres großes Innovationsfeld der Materialforschung sind die sogenannten Smart Materials, also Stoffe, die in gewissem Rahmen selbst auf Reize von außen reagieren können. Wie kann man sich das vorstellen?
Das sind zum Beispiel Lacke, die sich, wenn sie beschädigt werden, sozusagen selbst ausheilen können, oder aber Fassaden, die sich unter dem Einfluss von Wärme so verformen können, dass sie mehr Schatten spenden. Ein besonders spannendes Einsatzgebiet ist die Gewebezüchtung für Organmodelle, die man außerhalb des Körpers einsetzen oder aufbauen kann, um damit zum Beispiel die Reaktion auf Krankheitserreger oder Allergene zu testen. Möglich wird das durch ein Zusammenspiel von technischen Materialgrundbausteinen, welche die Zellen nicht nur am Leben halten, sondern auch dafür sorgen, dass sie möglichst genau die Funktion ausüben können, wie sie es im Organismus täten.

 

Im Grunde baut man also die Natur nach?
Zumindest nimmt man sie sich als Vorbild. Biologisierung der Materialien heißt der Begriff hierfür, der in den letzten Jahren in der Materialforschung sehr breit diskutiert wird. Es geht zum einen darum, Stoffe herzustellen, die sich immer besser in natürliche Kreisläufe integrieren. Zum anderen ist das Ziel, die komplexen Materialdesigns natürlicher Stoffe zu entschlüsseln und deren Prinzipien in neue Materialdesigns zu übertragen.

 

Wie weit ist man hier schon?
Wir wissen inzwischen, dass die Natur ihre Materialien nach sehr komplexen, hierarchisch geformten Strukturen aufbaut. Die kleinsten Einheiten sind die Moleküle, aus denen sich Nanostrukturen ergeben. Diese Nanostrukturen wiederum werden zu sehr heterogenen Mikrostrukturen zusammengesetzt. Zum Schluss haben wir dann das fertige Bauteil, etwa einen Baum oder einen Knochen. Das Faszinierende für uns ist, dass die Natur es schafft, mit einfachen Materialien hochkomplexe Eigenschaften zu erzeugen. Diese können wiederum Eigenschaften in sich vereinen, welche auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Ein Beispiel dafür ist der Knochen: Er ist leicht und fest zugleich.

 

Die Natur hatte dafür ja auch viele Millionen Jahre Zeit, mittels Trial and Error die bestmögliche Lösung zu entwickeln.
Richtig, und das können wir natürlich nicht leis-ten. Deshalb greift für mich das Bild des bloßen Nachbauens von Natur auch zu kurz. Wir wollen und können sie nicht einfach nachbauen, sondern es geht darum, uns die Komplexität der Natur zum Vorbild zu nehmen, um eigene, eng an unsere Bedürfnisse ausgerichtete Lösungen zu entwickeln. Dabei wird uns die Digitalisierung unterstützen.

 

Inwiefern?
Komplexe Strukturen und Zusammenhänge können simuliert und dadurch schon im Vorfeld viele Optionen der Struktur- und Eigenschaftsbildung von Materialien durchgetestet werden. Auch bei der Fertigung haben wir zunehmend die Möglichkeit, uns durch neue Verfahren an die Natur heranzutasten. Diese zeichnet sich durch vollständig integrierte Prozesse aus, so wie der Baum, der Schicht für Schicht wächst. Genau dies streben wir auch in neuen, additiven Fertigungsverfahren an.

 

Welche weiteren Material-Innovationen sind für die Zukunft zu erwarten?
Eine spannende Frage wird sein: Können wir Materialien entwickeln, die Licht ernten und mithilfe der Lichtenergie, die sie aufnehmen, auch aktive Eigenschaften entwickeln? Dann sollte es möglich sein, ein Material als eine Art Motor funktionieren zu lassen. Es wäre dann möglich, Stoffe zu entwickeln, die sich selbst bewegen und im Bereich von Nano- oder Mikrostrukturen dann zum Beispiel in der Robotik eingesetzt werden können.

 

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