Mehr Daten für Patienten

Immer mehr Patienten profitieren von digitalen Gesundheitslösungen. Ein effektiver Datenschutz ist dabei Grundvoraussetzung.
Illustration: Dirk Oberländer
Philipp Grätzel von Grätz Redaktion

Lange mussten sich Patienten mit Typ-1-Diabetes viermal am Tag oder häufiger in den Finger stechen, mussten Broteinheiten berechnen, Insulin injizieren, wieder messen, sich nochmal piksen. Mittlerweile gestaltet sich das bei immer mehr Patienten etwas anders. Geräte für eine kontinuierliche Zuckermessung in Blut oder Gewebe liefern rund um die Uhr aktuelle Informationen zum Zuckerhaushalt. Die Daten wandern vom Sensor in eine App und von dort in die Auswertesoftware des Arztes, der die Behandlung gemeinsam mit dem Patienten individuell plant.

 

Das ist noch längst nicht alles. Bei einer Veranstaltung der Deutschen Diabetes Gesellschaft Anfang Februar berichtete die Typ-1-Diabetikerin und Diabetes-Bloggerin Stephanie Haack, wie sie ihre Insulin-Pumpe mit Open Source Software und Algorithmen aus dem Internet mit ihrem Zuckersensor verschaltet hat. So entsteht eine Art künstliche Bauchspeicheldrüse, die den Zuckerstoffwechsel teilautomatisch reguliert. In den USA sind solche Systeme regulär im Einsatz. In Deutschland soll es erst 2020 soweit sein. Bis dahin helfen sich immer mehr Patienten mit Do-it-yourself-Systemen.


Wahnsinn? Eher ziemlich rational: „Die Ergebnisse sind fantastisch. Der Zucker ist in den Nächten in der Regel so stabil, dass ich durchschlafe. Das war vorher definitiv nicht der Fall“, so Haack. Und die junge Bloggerin kann sich noch viel mehr vorstellen: Sie hätte gerne Video-Chats statt der ständigen Arztbesuche und elektronische Folgerezepte auf ihrem Smartphone, kurz: Sie will sich nur dann intensiver mit ihrer Erkrankung beschäftigen, wenn das medizinisch nötig ist.

Der Typ-1-Diabetes ist im Moment das eindrucksvollste Beispiel dafür, wie sich eine Behandlung ändern kann, wenn Patienten umfangreichen Zugang zu digitalen Gesundheitsdaten bekommen. Andere Beispiele zeichnen sich schon ab, von der Überwachung von Implantaten über die Früherkennung von Vorhofflimmern bis hin zu digitalen Warnsystemen für Patienten mit Epilepsie.


Immer deutlicher wird dabei, dass sich das deutsche Gesundheitswesen auf solche digital gestützten Versorgungsszenarien viel besser vorbereiten muss: Die Video-Chats mit seiner Patientin bekäme der Diabetologe Stand heute nicht ohne Weiteres abgerechnet. In Schweden oder Frankreich erhielte er dafür dagegen exakt dieselbe Honorierung wie für einen direkten Patientenkontakt. Auch bei der Datenhaltung gibt es Verbesserungsbedarf. Für viele Versorgungsszenarien wäre eine elektronische Patientenakte wünschenswert, die dem Patienten oder Versicherten umfangreichen Zugriff auf die eigenen Gesundheitsdaten ermöglicht – zum Beispiel per Smartphone.


So etwas gibt es vielerorts. In den USA machen immer mehr Krankenhäuser ihre IT-Systeme fit für einen direkten Datenaustausch mit der elektronischen Patientenakte von Apple. Und Amazon will eine Krankenversicherung gründen und das digitale Patientenmanagement inklusive Online-Apotheke gleich selbst in die Hand nehmen. Auch in Deutschland sind Krankenversicherungen dabei, elektronische Akten zur Verfügung zu stellen. Auf Seiten der Gesetzlichen Krankenversicherung gibt es die TK-Safe-App der Techniker Krankenkasse, die Vivy-App von DAK und zahlreichen Innungs- und Betriebskrankenkassen und das „Digitale Gesundheitsnetz“ der AOK. Bei den privaten Krankenversicherungen engagieren sich die Allianz („Vivy“) und die Axa („Meine Gesundheit“ von CompuGroup Medical).


Bisher werkeln diese Projekte noch weitgehend unabhängig voneinander vor sich hin. Das soll sich aber ändern: Im Rahmen der neuen digitalen Infrastruktur für das deutsche Gesundheitswesen („Telematikinfrastruktur“) wurde von der zuständigen Organisation, der bisher von Krankenkassen und Kassenärzten und demnächst vom Bundesgesundheitsministerium kontrollierten gematik, ein einheitliches technisches Konzept („Spezifikation“) für elektronische Patientenakten entwickelt. Die derzeitigen Akten und Apps der Krankenkassen sollen jetzt mit dem neuen gematik-Standard in Einklang gebracht werden, und zwar bis zum Jahr 2021, dem Jahr, ab dem alle gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland ein Anrecht auf eine elektronische Patientenakte haben sollen.

Ein einheitliches Vorgehen macht bei den elektronischen Patientenakten aus mehreren Gründen Sinn. Zum einen werden Krankenhäuser und Arztpraxen nur dann mit den elektronischen Akten der Patienten unbürokratisch kommunizieren können, wenn nicht jede Akte anders funktioniert. Zum anderen gibt es auch mit Blick auf Datenschutz und Datensicherheit gute Argumente für Einheitlichkeit und für eine solide Zertifizierung.


So berichtete zum Jahreswechsel ein IT-Experte bei der Jahrestagung des Chaos Computer Clubs über teils kleinere, teils erhebliche Mängel bei der Datensicherheit der derzeit im Markt befindlichen Smartphone-Akten. Die neue Aktenspezifikation der gematik sei in Sachen Datenschutz besser, sagt der gematik-Sicherheitsexperte Holm Diening: „Wir können bei allen aufgeführten Punkten sagen: Das wäre mit einer Akte gemäß gematik-Spezifikation so nicht passiert.“


Das technische Konzept der gematik-Akte unterscheidet sich von den derzeitigen Akten unter anderem dadurch, dass die elektronische Gesundheitskarte der Versicherten als zusätzliches Sicherheitsfeature genutzt werden soll. Auch sollen Ärzte auf die elektronischen Patientenakten künftig nur über einen vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik eigens zertifizierten Router, den Konnektor, zugreifen können. Ganz unumstritten ist das nicht. So gibt es Industrieunternehmen, denen die Sicherheitsanforderungen der gematik zu weit gehen.


Es gibt auch andere strittige Punkte. Die Pläne der Politik, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung die inhaltliche Verantwortung für die elektronischen Patientenakten zu übertragen, werden scharf kritisiert. Trotzdem: Es geht voran. Selbst elektronische Rezepte, an denen sich jahrelang niemand die Finger verbrennen wollte, scheinen plötzlich denkbar, seit das Bundesgesundheitsministerium sie in einen aktuellen Gesetzesentwurf aufgenommen hat. Ende 2020 soll ein Konzept dafür vorliegen.

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