Krankheit mit tausend Gesichtern

Die Diagnose Multiple Sklerose ist nicht gleichbedeutend mit Rollstuhl und Pflegebedürftigkeit.
Illustration_MS
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Yvonne Millar Redaktion

Julia ist heute 21 Jahre alt und studiert Kommunikationswissenschaft. Mit ihrer MS-Erkrankung kommt sie recht gut zurecht. Als die Multiple Sklerose vor vier Jahren diagnostiziert wurde, brach jedoch zunächst eine Welt für sie zusammen. Mit 17 stand sie kurz vor dem Abitur, überlegte, was sie danach mit ihrem Leben anfangen wollte und hatte viele Pläne. Mit der Diagnose MS stürzte Julia in ein tiefes Loch. Statt auf einem Surfbrett in Australien sah sie ihre Zukunft nun im Rollstuhl, ständig auf die Hilfe anderer angewiesen.

Zunächst wussten nur ihre Eltern von der Erkrankung. Doch nach einiger Zeit, in der sich Julia auch über das Internet mit anderen MS-Erkrankten in ihrem Alter austauschte, erzählte sie ihren besten Freunden davon. „Ich stelle mich aber nicht mit den Worten vor: Hallo, ich bin Julia. Und ich habe MS“, erzählt die Studentin. Die ersten Anzeichen der MS zeigten sich bei Julia etwa ein Jahr vor ihrer Diagnose. „Ich litt plötzlich unter Sehstörungen“, berichtet die 21-Jährige. „Aber die verschwanden wieder.“ Sechs Monate später traten dann Empfindungsstörungen an ihren Beinen auf. „Wenn ich ein heißes Bad nahm, fühlte sich das warme Wasser an einem Bein kalt an.“ Erst nach vielen Untersuchungen, unter anderem im MRT (Magnetresonanztomographen), stellte dann schließlich ein Neurologe die Diagnose: Multiple Sklerose.
 

Von Muskelschwäche über Müdigkeit bis zu Sehstörungen und kognitiven Einschränkungen können die Symptome einer Multiplen Sklerose (MS), von Medizinern auch Enzephalomyelitis disseminata (ED) genannt, reichen. Doch Verlauf und Beschwerden unterscheiden sich von Patient zu Patient. Darum wird MS auch oftmals die Krankheit mit tausend Gesichtern genannt. In Deutschland leben schätzungsweise 130.000 Menschen, die an Multipler Sklerose (MS) erkrankt sind. Weltweit sind es etwa zwei Millionen. Dabei sind Frauen etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Je weiter vom Äquator entfernt, desto häufiger tritt MS auf.

Auch der Wohnort spielt eine Rolle. Denn: Je weiter vom Äquator entfernt, desto häufiger tritt MS auf. In der Regel sind MS-Erkrankte zwischen 20 und 40 Jahren alt, wenn die Erkrankung bei ihnen festgestellt wird. Diagnosen nach dem 60. Lebensjahr sind eher selten, ebenso wie MS-Erkrankungen im Kinder- und Jugendalter. Doch aufgrund verbesserter Diagnosemöglichkeiten wird MS auch zunehmend bei jungen Menschen erkannt.

Was genau MS verursacht, ist bis heute noch nicht eindeutig geklärt. Wissenschaftler gehen davon aus, dass mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Zum einen gibt es wohl eine genetische Komponente, die dazu führt, dass manche Menschen eher dazu neigen, an Multipler Sklerose zu erkranken, als andere. Da es sich bei MS um eine Autoimmunerkrankung handelt, bei der das Abwehrsystem eigene, gesunde Zellen angreift, spielen möglicherweise auch Umweltfaktoren, wie etwa Infektionen im Kindesalter, eine Rolle. Und da MS häufiger bei Frauen als bei Männern auftritt, sind möglicherweise auch Hormone verantwortlich.

Bei MS handelt es sich um eine chronische entzündliche Erkrankung, die das Nervensystem betrifft. Gehirn, Rückenmark und Nerven sind von einer Art Schutz- und Isolierschicht umgeben, dem Myelin. Entsteht an dieser Schutzschicht eine Entzündung, können Signale, die das Gehirn über das Rückenmark und die Nerven sendet, nicht mehr korrekt übertragen werden. Gerade zu Beginn der Erkrankung tritt MS häufig in Schüben auf, die sich über Stunden oder Tage entwickeln können und bis zu wenigen Wochen anhalten. Manche Betroffene verlassen dann beispielsweise aufgrund von Muskelschwäche oder Lähmungserscheinungen einige Tage kaum das Bett. Geht der Schub vorüber, verschwinden auch die Symptome – oftmals vollständig. Die Entzündungen können aber auch Narben hinterlassen, die dann zu dauerhaften Einschränkungen führen. Körperliche Anstrengung, Stress und Infekte zählen zu den möglichen Auslösern für diese Schübe. Aber auch das kann sich von Patient zu Patient unterscheiden.
Der Verlauf einer MS lässt sich kaum vorhersagen. Laut Deutscher Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) führt sie jedoch nur in unter fünf Prozent der Fälle innerhalb weniger Jahre zu schweren Behinderungen. Bei 90 Prozent der Erkrankungen handelt es sich bei Krankheitsbeginn um einen schubförmig-remittierenden Verlaufstyp, bei dem sich die Symptome der Patienten nach den Schüben häufig wieder vollständig oder zumindest weitgehend zurückbilden. Nach zehn bis fünfzehn Jahren geht diese Form in 30 bis 40 Prozent der Fälle in einen progressiven Verlauf über.

Multiple Sklerose ist nicht heilbar, lässt sich aber behandeln. Während eines Schubs vermindern beispielsweise Kortisonpräparate die Beschwerden. Die langfristige Therapie zielt darauf ab, das Immunsystem günstig zu beeinflussen. Diese Immunmodulation, beispielsweise mit Interferon, einem Botenstoff, der auch natürlich im Körper vorkommt, soll Häufigkeit und Stärke der Schübe verringern und bleibende Schäden verhindern. Darum ist es wichtig, frühzeitig mit der Behandlung zu beginnen und Schädigungen so vorzubeugen. Gleichzeitig ist es in der MS-Therapie wichtig, Begleiterscheinungen, wie Schmerzen und Müdigkeit, zu behandeln, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Derzeit arbeiten Forscher daran, weitere Medikamente zu entwickeln, die die Schübe noch wirksamer hinauszögern und Schäden verhindern können. Auch die Wirkung von Therapien mit UV-Licht wird untersucht. Was die progressiven Verlaufsformen der MS betrifft, befasst sich die Forschung derzeit zum Beispiel mit einer Gruppe von Zellen, die Oligodendrozyten genannt werden. Diese Zellen sorgen dafür, dass die Myelinhülle erhalten bleibt. Bei MS-Patienten ist deren Funktion jedoch eingeschränkt. Gelänge es, diese Zellen bei MS-Patienten zu vermehren und zu aktivieren, könnten Schäden an der Schutzschicht der Nerven aufgehalten und bereits entstandene Schäden möglicherweise sogar repariert werden.

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