Behandlung aus der Ferne

In vielen Ländern hat sich die Telemedizin, der virtuelle Kontakt von Arzt und Patient über räumliche und zeitliche Entfernungen, längst durchgesetzt. Deutschland hinkt hinterher, holt jedoch allmählich auf.
Illustrationen: Yvonne Schulze
Illustrationen: Yvonne Schulze
Andrea Hessler Redaktion

Das australische Outback bietet grandiose Landschaften und eine exotische Tier- und Pflanzenwelt. Doch abseits der Zivilisation lauern Gefahren für Leib und Leben: Bisse von Schlangen und Giftspinnen, Dehydrierung und Sonnenbrand, Unfälle auf Straßen und den riesigen Farmen. Ein Glück, dass es auf dem heißesten Kontinent seit mehr als 100 Jahren die Flying Doctors gibt. Sie werden per Funk oder Satellitentelefon zu Kranken und Verletzten in das australische Nirgendwo gerufen und können mit ihren kleinen Maschinen fast überall landen. Ist bei Erkrankten kein prompter persönlicher Einsatz nötig, geben Ärzte per Funk oder Video-Chat Ferndiagnosen und Tipps zur Selbstbehandlung. Damit sind die Flying Doctors eine der ersten und am besten bewährten Institutionen der Telemedizin, also der ärztlichen Hilfe, die über teils weite Entfernungen ohne persönlichen Kontakt von Arzt und Patient geleistet wird.

 

Norwegen und Kanada setzen auf Telemedizin

 

Auch in anderen großflächigen Ländern wie Norwegen und Kanada haben sich ärztliche Leistungen wie Diagnostik, Therapie und Beratung mittels Informations- und Kommunikationstechnologien längst etabliert. Viele deutsche Ärzte stehen diesen Methoden allerdings skeptisch gegenüber. So hat der Deutsche Ärztetag erst 2018 das Verbot ausschließlicher Fernbehandlung mittels Telefon oder Internet ohne vorherigen persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient gelockert. Inzwischen erlaubt die Berufsordnung „im Einzelfall“ und wenn „besondere ärztliche Sorgfalt“ beachtet wird auch Fernbehandlungen, allerdings sei „der persönliche Kontakt weiterhin der Goldstandard“. Für diesen sprächen das besondere Vertrauensverhältnis, das sich beim Besuch in der Praxis besser herausbilden kann, und die vielen nonverbalen Kommunikationskanäle wie Gestik, Mimik und Körperhaltung.

 

Trotzdem setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass Telemedizin auch hierzulande unverzichtbar wird. So fehlen Ärzte nicht nur in den menschenleeren Weiten des Outbacks; auch in spärlich besiedelten deutschen Regionen von Rheinland-Pfalz, Bayern und Brandenburg sind Mediziner Mangelware. Viele Hausärzte sind längst im Rentenalter, finden aber keinen Nachfolger, und vor allem junge Mediziner legen Wert auf Work-Life-Balance und arbeiten häufig nur in Teilzeit. Hinzu kommt, dass immer mehr Unternehmen wie etwa DrEd in London und das telemedizinische Zentrum Medgate in Basel medizinische Beratung per Chat und Internet an deutschen Regelungen vorbei aus dem Ausland anbieten. So verzeichnet Medgate nach eigenen Angaben inzwischen schon rund 12 Millionen Aufrufe jährlich – ein Geschäft, auf das die deutsche Ärzteschaft nicht dauerhaft verzichten will. Zudem beruft sie sich auf das Argument der Qualitätssicherung, wenn ihre Standesvertreter telemedizinisch engagiert sind und Patienten vor „Dr. Google“ mit dessen fragwürdigen Plattformen und Chats abfangen.

 

Die technische Ausrüstung für telemedizinische Dienste ist leicht zu bekommen. Verschiedene Firmen vertreiben entsprechende Software, oft ein Rundum-Sorglos-Paket für Organisation und Abrechnung von Internetbetreuung und Videosprechstunden samt Optimierung von Auslastung und Abrechnung sämtlicher Praxisleistungen. Auch manche Krankenkassen sind mit im Boot. So können gesetzlich Versicherte in Baden-Württemberg über www.docdirekt.de beziehungsweise die entsprechende App kostenfrei telemedizinisch geschulte Ärzte konsultieren und mit ihnen per Video chatten.

 

Eine Mischform von persönlichem und virtuellem Kontakt wird in der Arztmangel-Region Thüringen angeboten. Kassenärztliche Vereinigung Thüringen, AOK PLUS, IKK classic und Techniker Krankenkasse (TK) haben ein Projekt initiiert, bei dem eine speziell ausgebildete, nichtärztliche Praxisassistentin (NäPA) die Patienten mit dem sogenannten Tele-Arzt-Rucksack zuhause besucht. Im Rucksack befinden sich unter anderem verschiedene Messgeräte und ein Tablet-PC mit eingebauter Kamera. Über Internet nimmt die NäPA Kontakt zu ihrer Home-Base, einer Arztpraxis, auf. Der Arzt kann, ohne selbst vor Ort zu sein, eine Diagnose stellen und Rezepte ausstellen. Ein starkes Hindernis dieser Arbeit sind jedoch die über weite Teile Deutschlands noch fehlenden funktionierenden Internetverbindungen. In diesen Fällen kann unter Umständen ein Smartphone helfen. „Mit Videoanrufen sind so zumindest einfache Anamnesen möglich“, sagt der Thüringer Hausarzt Jens-Uwe Lipfert. „Dann kann auch entschieden werden, ob der persönliche Kontakt mit dem Patienten zur Blutentnahme oder ganz dringend zum Abstrich nötig ist.“ Voraussetzung sei allerdings, so Lipfert, daß der Patient mit dem Smartphone richtig umgehe – und das ist gerade bei älteren Patienten nicht immer der Fall.

 

Ein weiterer Knackpunkt ist, dass der Informationsaustausch von Arzt zu Arzt strengen Datenschutzbestimmungen unterliegt. Trotzdem verschicken viele Mediziner über gängige Messenger-Dienste wie WhatsApp Befunde und Bilder. Der niederländische Chirurg Joost Bruggemann hat das Problem erkannt und den Messenger-Dienst Siilo gegründet, zu dem nur registrierte Ärzte Zugang haben und der inzwischen weltweit schon mehr als 250.000  Nutzer hat.  

 

Das virtuelle Krankenhaus

 

Wegen dieser wurde in Nordrhein-Westfalen das Projekt „Virtuelles Krankenhaus“ forciert. Kleinere Krankenhäuser können via so genannter Telekonsile bei der Behandlung von Covid-19-Erkrankten die intensivmedizinische und infektiologische Expertise der Universitätsklinken Aachen und Münster in Anspruch nehmen. Die beteiligten Ärzte halten das Telemedizin-Experiment für geglückt. Professor Dr. med. Gernot Marx, Klinikdirektor für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care der Universitätsklinik Aachen und verantwortlich für die Leitung und Steuerung der Vorstufe des Virtuellen Krankenhauses, sagt: „Die Bereitstellung intensivmedizinischer Expertise per Telekonsil erweist sich im Rahmen der Covid-19-Pandemie als sehr erfolgreiches Mittel, um die Versorgung schwerst erkrankter Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Der Plan, die Ressource Intensivmedizin möglichst effektiv einzusetzen, ist voll aufgegangen.“

 

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