Arztpraxen ans Netz

Die Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems schreitet voran, ein greifbarer Mehrwert für Patienten lässt leider noch auf sich warten.
Illustration: Juliana Toro Suarez
Illustration: Juliana Toro Suarez
Philipp Grätzel von Grätz Redaktion

Die neue Bundesre-gierung ist vereidigt, und die Digitalisierung des Gesundheitswesens kommt im Koalitionsvertrag nicht zu kurz. Neben übergreifenden digitalpolitischen Maßnahmen wie Gigabit-Netze und Ausbau des mobilen Internets finden sich konkrete Digitalisierungsvorhaben, die das Gesundheitssystem betreffen. So kündigen die Koalitionspartner einen Aktionsplan an, der festlegt, wie die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens konkret vorangetrieben werden soll: mit einem digitalen Impfpass, einem digitalen Mutterpass, einem digitalen Kinderuntersuchungsheft und einem digitalen Zahnbonusheft. Sogar elektronische Rezepte werden erwähnt.

All diese Anwendungen sollen die neue Datenautobahn des Gesundheitswesens nutzen, die „Telematikinfrastruktur“. Das ist ein abgeschirmtes Kommunikationsnetz, das bald alle Arztpraxen, Krankenhäuser, Apotheken und schrittweise auch weitere Einrichtungen des Gesundheitswesens verknüpfen soll. Es dient der Kommunikation der medizinischen Einrichtungen untereinander, soll aber auch dem Versicherten Zugriff auf seine Daten bieten, und zwar mithilfe seiner elektronischen Gesundheitskarte und (auch) unter Nutzung von mobilen Apps.

Eine Sturzgeburt ist diese Telematikinfrastruktur nicht gerade. Vielen gilt sie als der Flughafen BER des deutschen Gesundheitswesens. 15 Jahre wird daran schon gewerkelt. Ex-Gesundheitsminister Philipp Rösler hatte das Projekt einst fast abgewickelt. Irgendwann haben die Krankenkassen dann jene elektronischen Gesundheitskarten ausgegeben, die heute jeder gesetzlich krankenversicherte Bürger in seiner Brieftasche hat. Jahrelang konnten sie nicht mehr als die alten, billigeren Speicherkarten.

Erst mit Gesundheitsminister Hermann Gröhe und seinem E-Health-Gesetz nahm das ganze Projekt wieder Fahrt auf. Und tatsächlich läuft seit November 2017 der sogenannte Rollout, die Anbindung der Arzt- und Zahnarztpraxen an die neue Infrastruktur. Die Praxen benötigen dazu ein neues Bauteil, den Konnektor. Das ist eine Art VPN-Box. Im Unterschied zu normalen VPN-Boxen müssen die Hersteller enorme Sicherheitsvorkehrungen treffen. Sichtbarstes Zeichen dafür ist eine Zulassung, die nicht nur durch die Betreibergesellschaft von Ärzten und Krankenkassen, die Gematik, erfolgen muss, sondern auch durch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik.

Das Thema Konnektor stellte sich als etwas komplizierter heraus, als erwartet worden war. Bisher ist das Unternehmen CompuGroup der einzige Anbieter, der Arztpraxen mit einem Konnektor ausrüstet. Das ist bereits in mehreren tausend Praxen geschehen, insgesamt relativ geräuschlos. Diese Praxen sind jetzt tatsächlich online: Wenn dort ein Patient seine elektronische Gesundheitskarte abgibt, wird sie eingelesen, die Versichertenstammdaten – z.B. der Versichertenstatus und die Adresse – werden überprüft und gegebenenfalls aktualisiert. Das Ganze ist eine Sache von Sekunden.

Nun gibt es aber eine sechsstellige Zahl von Arztpraxen in Deutschland, und für die soll es nicht nur einen Konnektor geben. Unter anderem die Deutsche Telekom, das österreichische Unternehmen RISE sowie secunet wollen eigene Boxen anbieten. Mit Spannung schaut die Branche deswegen auf die Gesundheits-IT-Messe conhIT Mitte April in Berlin. Dort könnten sich einige Anbieter neu aus der Deckung wagen. „Wir rechnen damit, dass wir mehr Wettbewerb bekommen. Das wird die Anbindung der Arztpraxen beschleunigen“, sagt Sebastian Zilch, Geschäftsführer des Bundesverbands Gesundheits-IT, bvitg e.V.

Ein paar gesundheitspolitische Fragezeichen gibt es allerdings noch, vor allem beim Geld. Es gibt zwar eine Finanzierungsvereinbarung zwischen Ärzten und Krankenkassen. Doch als die getroffen wurde, waren alle davon ausgegangen, dass der Rollout zügiger vonstattengehen würde. Hier dürfte nachverhandelt werden: Der für IT zuständige Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Thomas Kriedel, sagt klipp und klar: „Wir wollen neue Verhandlungen mit dem Spitzenverband der Krankenkassen, um die aktuellen Marktpreise bei der Finanzierung zu berücksichtigen.“
Viel spannender ist die Frage, wann die Digitalisierung endlich greifbaren Nutzen für die Patienten bringt. Denn selbst wenn bereits morgen alle Arztpraxen online wären, hätte der Bürger da noch nicht viel von. Das soll sich natürlich ändern: Elektronische Notfalldaten sollen auf der Karte gespeichert werden. Auch ein elektronischer Medikationsplan ist in Vorbereitung. Beides soll ab September 2018 einen Feldtest in der KV-Regio Westfalen-Lippe durchlaufen. Bis diese Anwendungen breit verfügbar sind, wird es aber noch eine Weile dauern – schon deswegen, weil die Ärzte dafür elektronische Arztausweise benötigen, die die meisten noch nicht haben.

Helfen könnte der Druck, der jetzt mit dem Koalitionsvertrag und einem in der Branche erwarteten zweiten E-Health-Gesetz aufgebaut wird. Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat als eine seiner ersten Amtshandlungen eine eigene Abteilung für Digitalisierung geschaffen, die sein 35-jähriger Berliner Parteikollege Gottfried Ludewig leiten soll.

Eins ist klar: Einfach ein paar neue digitale Anwendungen ins Sozialgesetzbuch zu schreiben, reicht nicht. Denn am Ende muss alles zusammenpassen. Leisten soll das jene elektronische Patientenakte, von der seit einiger Zeit das halbe deutsche Gesundheitswesen redet und die – natürlich – auch im Koalitionsvertrag auftaucht: Bis zum Ende der Legislaturperiode soll eine solche übergreifende Akte für jeden, der das möchte, zur Verfügung stehen.

Das wird eine ziemliche Herkulesaufgabe. Denn im Moment werkeln Krankenkassen, Krankenhäuser, Industrieunternehmen, Bundesländer und andere Akteure an mindestens zwanzig ver-schiedenen Aktenprojekten, die überwiegend nicht kompatibel sind, weil es niemanden gibt, der sich für eine Gesamtstrategie verantwortlich fühlt. Dass diese Gesamtstrategie im Rahmen jenes Aktionsplans entsteht, den der Koalitionsvertrag vorsieht, ist die große Hoffnung. Sicher ist das nicht.

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