Das Leiden der Vielen

Bei Erkrankungen einer großen Zahl von Menschen spricht man von Volkskrankheiten. Der demografische Wandel spielt hier eine wichtige Rolle. Manche Leiden sind aber hausgemacht.
Leiden
Illustration: Sabina Keric
Mirko Heinemann Redaktion

Hört man sich nur konsequent genug im Freundes- und Verwandtenkreis um, dann hat man sie schnell beisammen, die so genannten „Volkskrankheiten“. Subjektiv betrachtet scheinen sie mit dem steigenden Alter immer mehr Menschen zu befallen: Immer mehr klagen über Schmerzen, meist im Rücken. Immer mehr berichten von Bluthochdruck, Magen-Darm-Beschwerden, chronischen Entzündungen, rheumatischen Erkrankungen oder Herz-Kreislauf-Problemen, bis hin zum Herzinfarkt.

 

Dies ist, wie gesagt, eine subjektive Beobachtung. Es gibt keine medizinische Definition, die besagt, was eine „Volkskrankheit“ genau ausmacht. Es handelt sich nach allgemeiner Lesart um Erkrankungen, die eine besonders große Zahl von Menschen befallen. Dass Erkrankungen ab einem gewissen Alter zunehmen, erscheint nur logisch. Ist damit aber der Begriff der Volkskrankheit synonym mit der Alterskrankheit? Nein, denn die starke Zunahme vieler Erkrankungen lässt sich nicht allein auf das steigende Alter der Gesamtbevölkerung zurückführen. Zahlreiche andere Faktoren spielen eine Rolle. Viele der neuen Volkskrankheiten entstehen, weil die Lebensverhältnisse sich verändert haben und sind mithin eher „Zivilisationskrankheiten“.

 

In vorindustrieller Zeit waren die großen Volkskrankheiten Mangelerkrankungen, meist aufgrund von schlechter Ernährung. Oder sie waren Infektionskrankheiten, wie zum Beispiel die Pest. Der Herzinfarkt war noch vor wenigen Jahrzehnten in medizinischen Lehrbüchern deutlich weniger prominent vertreten als heute. Die Menschen litten weniger stark unter Bewegungsmangel, zu fetter Ernährung oder unter Stress. 

 

Diese drei Faktoren sind in der Wohlstandsgesellschaft zu den entscheidenden Erkrankungsrisiken geworden. Heute ist es nicht der Mangel, sondern vielmehr der Überfluss, der viele Erkrankungen hevorruft oder sie zumindest begünstigt: zu viel Fett und Energie in den Speisen, zu wenig Bewegung aufgrund der technischen Entwicklungen, die das Arbeitsleben und die Mobilität vereinfacht haben. Ein zu hoher Konsum von Alkohol, Tabak und anderen Genussmitteln. 

 

Laut Robert Koch-Institut sind zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen in Deutschland übergewichtig. Jeder zweite Deutsche treibt so gut wie gar keinen Sport, nur ein Fünftel der Bevölkerung ist die empfohlenen 2,5 Stunden pro Woche körperlich aktiv. Übergewicht ist ein wichtiger Risikofaktor für Diabetes: In Deutschland werden für das Jahr 2025 beinahe zehn Millionen Diabetes-Patienten vorhergesagt. Schon bei Jugendlichen führt die energiereiche Ernährung bei gleichzeitigem Bewegungsmangel zunehmend zu Übergewicht oder sogar zur Fettleibigkeit, der Adipositas. Dazu kommen immer mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie  Herzinsuffizienz, koronare Herzerkrankung und Herzinfarkt. Nach einer Modellrechnung aus den USA könnte die Hälfte der Herz-Kreislauf-Krankheiten durch gesundheitsbewussteres Verhalten vermieden werden. Insbesondere kontinuierliche körperliche Aktivität, also regelmäßige Dauerbelastungen durch Spazierengehen, Wandern oder Laufen, beugt koronaren Herzerkrankungen vor. Der Grund: Durch das regelmäßige Training ist das Herz-Kreislauf-System besser gegen Arteriosklerose gewappnet. Bewegung gilt auch als gute Prävention bei manchen Krebserkrankungen.  

 

In Reaktion auf die zunehmende Zahl der Erkrankungen hat die Bundesregierung die Forschung gebündelt und sechs so genannte „Zentren der Gesundheitsforschung“ gegründet. Sie widmen sich der Erforschung der modernen Volkskrankheiten: den Neurodegenerativen Erkrankungen, zu denen auch Alzheimer zählt, dem Diabetes, den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, den Infektionen und den Lungenerkrankungen. Und der Erforschung von Krebs. Denn auch der Krebs entwickelt sich allmählich zur Volkskrankheit. Die Zahlen des Robert Koch-Instituts, das als Bundeseinrichtung für die Überwachung der Krankheitsfälle zuständig ist, sind alarmierend: Binnen zehn Jahren ist die Zahl der Krebserkrankungen um bis zu 20 Prozent gestiegen. Hauptursache ist zwar das steigende Alter der Durchschnittsbevölkerung. Doch dazu kommen viele Risikofaktoren, vor allem das Rauchen, der Genuss von Alkohol und Fleisch, und auch hier der Bewegungsmangel. 

»Etwa die Hälfte der Herz-Kreislauf-Erkrankungen könnte vermieden werden.«

Mit der verbesserten Erforschung von Krebs haben sich für Patienten mit bestimmten Krebserkrankungen wie Leukämien oder bestimmten Tumoren im Kindesalter die Chancen auf Heilung verbessert. So ist die Überlebensrate bei Brust- und Darmkrebs deutlich gestiegen. Auch die wissenschaftliche Erforschung der Infektionen geht in Riesenschritten voran. Durch Impfungen wurden viele vormals lebensbedrohliche Krankheiten ausgerottet. Heute sind es globale Herausforderungen wie HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria sowie andere tropische Infektionskrankheiten, welche die Forschung beschäftigen. Mit der schnell wachsenden Weltbevölkerung, dem Klimawandel und der Globalisierung des Reiseverkehrs werden die Risiken globaler Seuchen stetig steigen. Gleichzeitig verlieren immer mehr bewährte Antibiotika, Antimykotika und Virostatika ihre Wirksamkeit, da die Keime Resistenzen entwickeln. 

 

Mehr Aufklärung über einen gesundheitsbewussten Umgang mit Körper und Geist könnte zumindest hierzulande dafür sorgen, dass so manche Volkskrankheit zurückgedrängt wird: Regelmäßiger Sport, eine gesunde Ernährung, Impfungen, aber auch die Reduzierung von Feinstäuben oder die Vermeidung von allergieauslösenden Stoffen könnten kleine Wunder wirken. Eine Hoffnung liegt dabei auf der Digitalisierung: „Wearables“, etwa Smartwatches, verfügen über immer mehr Funktionen, mit denen sich Gesundheitsdaten erheben lassen. Sie können Statistiken über Bewegungsprofile erstellen, Puls oder Blutdruck messen und so Rückschlüsse auf erhöhte Erkrankungsrisiken zulassen. Die neuen Möglichkeiten zur Selbstbeobachtung führen bereits bei vielen jungen App-Nutzern zu einem verbesserten Gesundheitsbewusstsein. 

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