Wege zur Wellness

Kuren gibt es schon seit der Antike, aber immer seltener kommt man in Deutschland auf Kassenkosten in deren Genuss. Der Trend geht hin zu Medical Wellness und privatem Fitnessprogramm – im Kurort.
Wege zur Wellness
Wege zur Wellness
Christine Berger Redaktion

Ein feiner Sprühnebel liegt in der Luft, er lässt einen unmerklich tiefer atmen und man fühlt sich gleich wohler. Das größte Gradierwerk Europas am Ende der Fußgängerzone von Bad Salzuflen ist eine Wohltat und dazu noch eine kostenlose. Seit 1921 wird hier die Sole ans Tageslicht geholt, 600 000 Liter täglich. Das salzhaltige Wasser aus 1000 m Tiefe soll Beschwerden der Atemwege lindern und auch gegen Konzentrationsschwäche und Schlafstörungen helfen. 

 

Bad Salzuflen am Rande des Teutoburger Waldes hat alles, was einen Kurort ausmacht: einen Kurpark, ein Kurhaus, ein Thermalbad und viele Hotels und Kliniken. Dennoch sagt Oliver Sickmann von der Staatsbad Salzuflen GmbH: „Auf den Kurbereich kann keiner mehr setzen.“ 

 

Eine merkwürdige Antwort, wenn man sich die Infrastruktur anschaut, aber sie erklärt sich, wenn man Trends und Gesetze berücksichtigt, denen Kurorte schon immer besonders unterworfen waren. Nur noch 15 bis 20 Prozent aller Touristen in Bad Salzuflen seien reine Kurgäste, erklärt Sickmann. Das liege zum einen an den Krankenkassen. Die Zeiten, als noch 800.000 Kuren pro Jahr bezahlt wurden, sind längst vorbei. Gerade mal 60.000 werden heute noch bewilligt. Hinzu komme, dass Kuren in manchen Bevölkerungskreisen als uncool gelten. 

 

In dagegen ist Wellness, weshalb sich Kurorte wie Bad Salzuflen nicht über mangelnden Zulauf beklagen können. Die Kurorte in Deutschland setzen auf Gesundheitstourismus. Mit Erfolg: Von einem Besucherrekord zum nächsten etwa hangelt sich die Übernachtungsstatistik des Deutschen Heilbäderverbandes. Von fast 23,6 Millionen Gästeankünften in den Kurorten in 2014 ist da die Rede, eine Steigerung um 3,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dreitägige sogenannte Medical Wellnesspakete werden vielerorts von Hotels angeboten. Das ist dem aktuellen Freizeitverhalten angepasst, denn die Deutschen nehmen sich mittlerweile lieber öfter, dafür kürzer im Jahr eine Auszeit. 

 

Ob das allerdings den Effekt einer dreiwöchigen Kur, wie sie einst üblich war, ersetzt, darf bezweifelt werden. Dem Deutschen Heilbäderverband e. V. ist die Abwendung der Kassen von der Kur schon lange ein Dorn im Auge und er unterstützt ein neues Präventionsgesetz, um wieder Terrain für seine 253 Mitgliedsorte zu gewinnen. Das Gesetz soll die Krankenkassen verpflichten, mehr Geld in die Vorsorge zu investieren, was mehrwöchige Kuren ja auch sind. Derzeit werden von den Kassen laut Heilbäderverband nur 4,83 Euro pro Jahr für die Vorsorge jedes Versicherten ausgegeben. „Eine Kur sollte immer drei Wochen dauern aus medizinischen Gründen,“ weiß Anneke Güttler vom Deutschen Heilbäderverband. Schließlich müsse man in vielen Fällen neue Handlungs- und Lebensweisen erlernen und üben. „Man muss stark werden, um das Gelernte im Alltag umzusetzen,“ so Güttler.

 

Dass Erholung und Gesundung seine Zeit braucht, ist nicht neu: Schon in der Antike dauerte ein Kuraufenthalt mehrere Wochen, manchmal sogar Monate. Das Therapieziel war es, die Selbstheilungskräfte zu aktivieren und zu stärken. Alle Behandlungen waren durchdacht und aufeinander abgestimmt: Es gab Heilmassagen, Kräuterkuren, Moorbäder, Schlaf- und Entspannungskurse und sogar Musik- und Sprechtherapien. Dem Einklang von Körper und Geist wurde eine große Bedeutung zugemessen.

 

Im Mittelalter geriet in Europa das wichtige Wissen um die heilende Kraft des Wassers und der Luft fast in Vergessenheit. Erst als sich Krankheiten und Seuchen ab dem 14. Jahrhundert ausbreiteten, besann man sich wieder auf das Heilwissen und richtete erste Badstuben ein. Zu einer Renaissance bekannter Heilquellen und Gesundbrunnen kam es dann ab dem 16. Jahrhundert. Thermen und Heilquellen kamen wieder zu Ehren und ein Kuraufenthalt wurde für die höheren Gesellschaftsschichten zur Normalität. Johann Wolfgang von Goethe etwa hat einen Teil seiner Werke während seiner 22 Kuraufenthalte geschrieben. 

 

Im 19. Jahrhundert spielte sich ein Großteil des gesellschaftlichen Lebens in mondänen Kurorten wie Wiesbaden oder Baden-Baden ab. Allerdings stand die Gesundheit bei vielen Kurgästen längst nicht immer im Mittelpunkt, was die prunkvollen Spielkasino-Bauten und Konzertsäle noch heute zeigen. Die weitläufigen Parkanlagen im englischen Stil, klassizistische Hotelbauten und die vielen prominenten Gäste zeigten: Hier war man unter sich, hier wurde Politik gemacht, gefeiert und der angemessene Partner fürs Leben gefunden. 

»Die Kurorte in Deutschland setzen auf Gesundheitstourismus.«

Die kassenärztlich verordnete Kur für Jedermann ist eine Erfindung der Neuzeit, und viele Kur- und Heilbäder entstanden erst im 20. Jahrhundert. Rund 350 Kurorte gibt es in Deutschland. Je nach Region werden die verschiedensten Leiden kuriert, an der Nordsee vor allem Haut- und Atemwegserkrankungen, desgleichen in der staubarmen Bergluft der Alpen. Thermalbäder in den Mittelgebirgen setzen auf die heilende Kraft des Wassers und Bewegung in freier Natur. 

 

Fast alle Kurorte stehen in Konkurrenz zueinander, seitdem die Kurenden nicht mehr automatisch kommen. Und so arbeitet man an der Schärfung des eigenen Profils. Königstein im Taunus etwa hat das Heilklima-Wandern im Portfolio: 34 leistungsphysiologisch vermessene Wege aller Schwierigkeitsgrade und 180 Kilometer Wanderpfade. In Bad Belzig findet Anfang Juli der 1. Mitteldeutsche Barfusswandertag statt, mit Barfusstouren für Anfänger und Fortgeschrittene, Bad Salzuflen bietet spezielle Tinnitus-Kuren an und strebt zudem den Titel „Allergiefreundliche Kommune“ an. Dazu gehört, die Infrastruktur so zu verbessern, dass sich Allergiker wohlfühlen – etwa Bäcker, die Brot ohne Gluten anbieten, Betten mit Anti-Milben-Bezug etc. „Stillstand wäre tödlich“ bringt es Oliver Sickmann auf den Punkt. Immerhin hängen in dem 55.000 Einwohner-Städtchen 3000 Arbeitsplätze an der Kur- und Tourismuswirtschaft. 

 

Im Wangerland an der Nordsee ist der Kurbetrieb ebenfalls ein nicht unerheblicher Wirtschaftsfaktor, allerdings muss man hier nicht ganz so kreativ sein, denn viele Gäste kommen noch immer zuverlässig ohne selbst tief in die Geldbörse greifen zu müssen: Mütter und Kinder. Gleich drei Heime therapieren im Auftrag des Müttergenesungswerkes gestresste und erschöpfte Frauen. Und auch Väter kommen seit 2013, denn diese sind zunehmend ebenfalls von der Doppelbelastung Beruf und Kindererziehung betroffen. Zur dreiwöchigen Kur gehören neben medizinischen Anwendungen u. a. Beratung, Entspannungsübungen und Zeit für sich alleine. Die Kinder werden derweil versorgt und gehen mitunter sogar im Kurheim zur Schule. 

 

76 Kureinrichtungen in ganz Deutschland arbeiten mit dem Müttergenesungswerk zusammen, 44.000 Mütter und 64.000 Kinder werden pro Jahr verschickt. Nicht jedem gefällt der durchstrukturierte Kuraufenthalt mit Anwendungen von acht Uhr morgens bis zum gemeinsamen Abendbrot mit den anderen Müttern um 18 Uhr. Das Heim ist gerade für viele alleinerziehende Frauen jedoch häufig die einzige Möglichkeit, mal raus zu kommen und günstig „Urlaub“ zu machen, beträgt die Zuzahlung doch nur 220 Euro und bei einkommensschwachen Frauen etwa 80 Euro. Auch Frauen mit erwachsenen Kindern, die einen Angehörigen pflegen, können über das Müttergenesungswerk übrigens eine Kur beantragen. 

 

An der Nordsee hilft Thalasso, eine Anwendung mit Meerwasser, Schlick, Algen und Sand nicht nur erschöpften Müttern und kleinen Rotznasen etwa bei ständig verstopften Nebenhöhlen,  auch Rheuma und chronische Hautkrankheiten bessern sich. Auf den ostfriesischen Inseln wirkt allein ein Strandspaziergang schon wie eine Inhalationskur. Auf der Insel Spiekeroog gibt es daher Thalasso-Therapiewege, die Kondition und die Belastungsfähigkeit von Herz und Atemwegen steigern sollen.

 

Ob finanziert oder nicht: Für viele Menschen im Berufsleben ist an eine dreiwöchige Kur gar nicht zu denken, oder erst dann, wenn der erste Herzinfarkt schon kassiert ist und dann als Rehabilitationsmaßnahme wirksam wird. Wer zusätzlich zu seinem Urlaub ohne erkennbaren Grund noch wochenlang„Kurferien“ macht, ist mancherorts bei Kollegen unten durch. Lieber streut man daher Gesundheits- und Erholungstage rund ums Jahr ein. Hier ein Ausflug in die Therme, dort ein Wochenende am Meer.

 

Wenn es gar nicht mehr geht, lässt man sich krank schreiben und versucht zuhause neue Kraft zu schöpfen. Krankenkassen wie die BKK  und die TK bieten mittlerweile dem Zeitgeist angepasste Auszeitformate an, etwa eine sogenannte Aktiv- oder Gesundheitswoche als Kurzkur. Während dieser Zeit lernt man in unterschiedlichen Kursen alles Wichtige zu Entspannung, Ernährung und Bewegung. Die Kurse sind kostenlos, man muss jedoch die Anfahrt und die Übernachtungs- sowie bei der BKK die Verpflegungskosten aus eigener Tasche bezahlen. Güttler vom Deutschen Heilbäderverband bezweifelt, dass diese Kurzkuren einen großen Effekt haben. „Aber immer noch besser, als überhaupt nichts zu unternehmen.“

 

Wer dem Arbeitsleben entwachsen ist, sorgt sich immer öfter selbst darum, gesund zu bleiben und bucht privat den Kuraufenthalt. Beweglich sein und vital, das ist für immer mehr Menschen jenseits der 65 ein erstrebenswertes Ziel. „Die Leute geben Geld aus, um fit zu bleiben,“ fasst Sickmann von der Staatsbad Salzuflen GmbH zusammen. Ein Glück für die Kurorte, nicht nur in Deutschland.

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