Woran leidet Deutschland?

Es gibt viele Definitionen von „Volkskrankheit“. Was sie gemein haben: Es geht um Erkrankungen, unter denen große Teile einer Bevölkerung leiden, die das Gesundheitswesen viel Geld kosten und die immer wieder zum Thema von Debatten werden.
Illustration: Laure Manière
Illustration: Laure Manière
Katharina Münster Redaktion

Die Beispiele dreier Volkskrankheiten – Rückenschmerzen, Bluthochdruck und Allergien – zeigen, wie sie unsere Gesellschaft beeinflussen und welche Diskussionen um sie geführt werden.

Ein Volksleiden drückt sich durch den fast schon allgegenwärtig gewordenen Ausruf „Ich hab Rücken!“ aus. „Im Laufe ihres Lebens haben etwa 70 bis 85 Prozent der Menschen in Deutschland mindestens einmal Rückenschmerzen“, sagt Prof. Dr. Bernd Kladny, Chefarzt Orthopädie und Unfallchirurgie an der m&i-Fachklinik Herzogenaurach sowie Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie e.V. (DGOU). „Das liegt zum einen daran, dass Sitzen das neue Rauchen ist. Daher leiden auch die meisten Patienten unter nicht-spezifischen Rückenschmerzen, bei denen Ärzte keine krankhaften Strukturen an der Wirbelsäule finden, die den Schmerz ursächlich erklären“, so Prof. Kladny. Bei spezifischen Schmerzen wiederum liegt eine krankhafte Veränderung der Wirbelsäule vor, wie ein Bandscheibenvorfall, ein Wirbelkörperbruch oder eine Entzündung. „In beiden Fällen ist es wichtig, die Schmerzen zu lindern und die Patienten dazu zu bringen, sich zu bewegen.“ Wann immer es geht, kommen zunächst konservative Verfahren zum Einsatz, also etwa Physiotherapie – wobei Ärzte nur eine bestimmte Zahl von Physiotherapie-Rezepten ausstellen dürfen – weniger, als vielen lieb ist.

Wenn die Schmerzen dann nicht gehen wollen, stellt sich häufig die Frage nach einer Operation. Und diese Frage wird in Deutschland heiß diskutiert: Operieren Ärzte zu häufig? Machen sie das vielleicht sogar, weil sie für einen Eingriff mehr Geld bekommen als für das Verschreiben von Krankengymnastik und Schmerzmitteln? Orthopäde Kladny warnt davor, wegen dieser Debatten jede Operation zu verteufeln. „Manche Patienten haben regelrecht Angst vor einem Eingriff, weil sie befürchten, er könnte sinnlos sein“, berichtet er. Die Fachgesellschaft DGOU würde deswegen gerade versuchen, einige Fakten in die Diskussion einzubringen – und wissenschaftlich untersuchen, unter welchen Bedingungen genau Patienten heute am Rücken operiert werden und ob es Unterschiede von Region zu Region gibt.

Bluthochdruck: häufig, aber gut behandelbar

Die nächste Volkskrankheit ist ganz anders als der Rückenschmerz. Sie führt selten zu lautem Klagen, ja meistens noch nicht einmal wirklich zu Beschwerden. Denn eine Hypertonie, also ein hoher Blutdruck, bleibt oft jahrelang unbemerkt – und ist trotzdem der Risikofaktor Nummer eins für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

„In Sachen Blutdruck gibt es gerade zwei gegenläufige Entwicklungen“, sagt Prof. Ulrich Wenzel, Facharzt für Innere Medizin und Nephrologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Auf der einen Seite werden wir alle älter, weshalb es mehr Patienten mit Bluthochdruck gibt. Andererseits sind Sport und gesunde Ernährung aktuell sehr angesagt.“ Diese beiden Maßnahmen, zusammen mit Gewichtsreduktion, sind mit Abstand das beste Mittel gegen zu hohen Blutdruck.

Unabhängig von allen Trends ist die Erkrankung extrem weit verbreitet. Insgesamt haben in Deutschland laut der Deutschen Hochdruckliga etwa 20 bis 30 Millionen Menschen Bluthochdruck. In den USA gibt es konkrete Zahlen. Seit dort kürzlich die Grenzwerte von 140 auf 130 mmHg korrigiert wurden, ab denen Blutdruck als zu hoch gilt, leiden dort offiziell 46 Prozent der Bevölkerung unter Hypertonie. „Zwischen 130 und 140 mmHg Blutdruck erhalten in den USA aber nur Patienten Medikamente, die zusätzliche Erkrankungen oder ein hohes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in sich tragen. Ab 140 mmHg erhalten alle Patienten Medikamente.“, sagt Prof. Wenzel. „Das ist brutal konsequent, beinhaltet aber auch sehr gute Denkansätze.“

In Deutschland und weltweit wird inzwischen an neuen Therapiemethoden geforscht. „So war die Bundesrepublik 2014 Spitzenreiter bei der interventionellen renalen Denervierung. Dabei veröden Ärzte die Nierennerven, wodurch wiederum der Blutdruck sinkt“, so der Mediziner. „Die Ergebnisse waren damals sensationell. Experten aus den USA zweifelten die Methode jedoch an. In einer Studie stellten sie dar, dass auch bei den Teilnehmern der Blutdruck sank, denen man nur erzählt hatte, ihnen wurden die Nierennerven verödet.“ Die Forscher müssen also weiter arbeiten, um den Stellenwert interventioneller Hochdrucktherapien herauszufinden. Sie sehen darin aber möglicherweise ein großes Potential.

Allergien: Behandlungen senken Asthma-Risiko

Das letzte Beispiel ist der Inbegriff einer „Zivilisationskrankheit“. Je fortschrittlicher eine Gesellschaft ist, desto häufiger tritt sie auf. Mitte des 20. Jahrhunderts waren Allergien noch ein Randphänomen. Heute sind laut Deutschem Allergie und Asthmabund rund 30 Millionen Bundesbürger mindestens einmal in ihrem Leben von einer allergischen Erkrankung betroffen.

„Die häufigste ist der allergische Schnupfen, im Volksmund auch `Heuschnupfen` genannt“, sagt Prof. Jörg Kleine-Tebbe, Allergologe und Hautarzt und Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie (DGAKI). „Dieser entwickelt sich nicht selten mit den Jahren zu einem allergischen Asthma. Um das zu vermeiden, ist es wichtig, dass Allergiepatienten gut betreut werden.“ Als Standardtherapie bei leichtem allergischen Schnupfen gelten sogenannte Antihistaminika, die Patienten meist in Form von Tabletten erhalten. Sie sorgen dafür, dass bestimmte Botenstoffe im Körper, die eine allergische Reaktion auslösen, blockiert werden. 

„Seit einigen Jahren verabschiedet sich die Politik zunehmend aus der Versorgung der Allergiker mit Medikamenten“, sagt Prof. Kleine-Tebbe. „Die wirksamen Antihistaminika sind nicht mehr rezeptpflichtig, die Krankenkassen erstatten sie nicht mehr. Die Patienten bleiben auf den Kosten sitzen – ein Skandal!“ Seit Neuestem gilt das auch für kortisonhaltige Nasensprays, die dem Berliner Allergologen zufolge zu selten von den Apothekern angeboten werden. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass viele die Nebenwirkungen von Kortison fürchten, die es bei niedriger Dosierung und lokaler Anwendung an der Schleimhaut gar nicht gibt“, erklärt Prof. Kleine-Tebbe. „In den letzten Jahren wurden zudem große Datenmengen aus dem Gesundheitssystem ausgewertet, die zeigen, dass Allergiepatienten, die eine Immuntherapie, also eine Hyposensibilisierung, erhalten haben, seltener an allergischem Asthma erkranken als unbehandelte Personen“, so der Experte. „Dieser neue Ansatz, Daten aus dem realen Leben zu bewerten, ist spannend und zukunftsträchtig.“

Doch obwohl die Hyposensibilisierung gute Ergebnisse liefert, wird sie in Deutschland noch relativ selten eingesetzt. „Wir haben hier die komfortable Situation, dass sowohl Haut- und Kinderärzte als auch Lungenfachärzte und Hals-Nasen-Ohrenärzte die Therapie anwenden dürfen. Leider gibt es in strukturschwachen Gebieten Versorgungslücken, weil dort zu wenige Fachärzte mit Allergieerfahrung praktizieren“, sagt der Allergologe. Für schwere Formen des Asthmas stehen zudem sogenannte Biologika zur Verfügung. Das sind künstlich hergestellte Substanzen, die gezielt Allergie-Antikörper und Botenstoffe im Körper beseitigen. „Diese Mittel werden regelmäßig gespritzt und helfen auch den Patienten, bei denen alle anderen Medikamente nicht ausreichend anschlagen“, erklärt Prof. Kleine-Tebbe. „Die Präparate sind jedoch recht teuer und daher nur für Patienten gedacht, die unter einem sehr schwerem Asthma leiden.“

Wirbelsäule, Blutkreislauf, Immunsystem – Volkskrankheiten tauchen an den unterschiedlichsten Stellen im Körper und in der Gesellschaft auf und werden auch in Zukunft, vor allem aufgrund des demografischen Wandels, weiter an Bedeutung gewinnen. Die Beispiele zeigen außerdem: Wenn Ärzte etwa nur eingeschränkt Krankengymnastik verschreiben dürfen und wir wichtige Medikamente wie jene gegen Allergie selbst zahlen, muss jeder von uns in seine Gesundheit investieren – sei es, indem wir Präventionsangebote wahrnehmen, Sport treiben oder eben für Medikamente in die eigene Tasche greifen.