Warnsignal mit Folgen

Immer mehr Patienten leiden unter chronischen Schmerzen. Bei ihnen spielt die Psyche oftmals eine wichtige Rolle. Manchmal hilft nur noch eines: das Schmerzgedächtnis überlisten.
schmerz
Illustration: Maria Martin
Kerstin Mitternacht Redaktion

Viele Menschen, die morgens aufstehen, halten inne, wenn ihnen plötzlich ein Schmerz durch den Rücken zieht. Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten chronischen Schmerzen in Deutschland. „Meist handelt es sich um muskulär bedingte Schmerzen, die durch eine falsche Bewegung ausgelöst werden. Diese Schmerzen verschwinden bei neun von zehn Betroffenen nach etwa vier Wochen“, sagt Michael Überall, Schmerzexperte, Leiter des Regionalen Schmerzzentrums in Nürnberg und Präsident der Deutschen Schmerzliga. Die restlichen zehn Prozent seien schwieriger zu behandeln. Hier müsse erst einmal die Ursache entdeckt und dann eine passende Behandlung gefunden werden. 

 

„Viel zu häufig wird in Deutschland allerdings am Rücken operiert, ohne dass dies wirklich notwendig ist“, sagt der Schmerzexperte. Wenn sich aber Menschen mit Schmerzen anderer Ursache an der Wirbelsäule operieren lassen, gehe es ihnen danach in den wenigsten Fällen besser. „Ein Grund, dass in vielen Fällen zu schnell zum Messer gegriffen wird, ist, dass Operationen besser bezahlt werden, als die eigentlich notwendigen Physiotherapien“, sagt Überall.

 

Der akute Schmerz, wenn wir uns etwa den Fuß anstoßen, ist sinnvoll. Denn Schmerzen signalisieren uns, dass etwas in unserem Körper nicht stimmt. „Schmerz ist erst einmal ein Schutzsys-tem des Körpers und hilft uns zu überleben“, erklärt Überall. Es gibt allerdings auch chronische Schmerzen. „Wenn zum Beispiel im Kniegelenk der Knorpel aufgebraucht ist, werden Knieschmerzen im Laufe der Zeit immer häufiger auftreten. Diese Schmerzen lassen sich aber meist gut behandeln.“

 

Darüber hinaus gibt es chronische Schmerzen, bei denen sich die sonst strenge Verbindung von Schmerz und Ursache verselbstständigt hat. „Bei diesen chronischen Schmerzkrankheiten kommt die Psyche als entscheidender Faktor mit ins Spiel“, erklärt Überall. „Betroffene leiden anhaltend unter Schmerzen, die erstmalig etwa nach einem Unfall oder einer Verletzung aufgetreten sind, deren auslösende körperliche Ursache jedoch vollständig abgeheilt ist. Das Leben dieser Patienten wird von Schmerzen dominiert. Betroffene können oft nicht mehr arbeiten und sind in ihren sozialen Kontakten stark beeinträchtigt.“ Davon betroffen waren 2015 in Deutschland laut Bundesversicherungsamt etwa 3,8 Millionen Menschen.

 

Allerdings gebe es zu wenig ausgebildete Schmerztherapeuten, die diese Patienten adäquat behandeln können. „Patienten mit chronischen Schmerzsyndromen benötigen häufig eine Kombination verschiedenster Therapieverfahren, wie Psychotherapie, Physiotherapie und Medikamente.“ Es sei sehr aufwändig, diesen Menschen zu helfen und ihnen wieder Wege zurück in ein selbstbestimmtes Leben zu zeigen.

 

Im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen ist auch das Schmerzgedächtnis zu erwähnen: „Schmerz entsteht letztlich im Kopf“, erklärt Überall. Nerven übermitteln einen Impuls, der im Gehirn in Schmerz übersetzt wird. Wiederholt auftretende Schmerzen und deren Verknüpfung mit Emotionen, unterstützen die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses. „So wie unser Gehirn durch Wiederholung das kleine Einmaleins abgespeichert hat und bei Bedarf abruft, so speichert es auch wiederkehrende Schmerzen in einer Schublade ab. Wenn diese Schublade dann geöffnet wird, obwohl es keinen auslösenden Schmerzimpuls gab, empfinden Betroffene über diese Gedächtnisinhalte Schmerzen, die sich in nichts von real erlebten Schmerzen unterscheiden“, erklärt Überall. Ein Schmerzgedächtnis lasse sich nicht löschen, sondern die Informationen könnten überschrieben werden, sodass die Schublade Schmerz seltener oder überhaupt nicht mehr geöffnet werde. Dies lasse sich mit Ablenkung, etwa körperlicher Aktivität oder Musik erreichen. 

 

„Wir müssen feststellen, dass die Zahl der Betroffenen mit chronischen Schmerzen im Laufe der Jahre kontinuierlich gestiegen ist“, sagt Überall. Die Gründe hierfür sind vielschichtig: „Zum einen spielt der medizinische Fortschritt eine Rolle, dass Menschen viele Situationen in denen sie früher gestorben wären, heute überleben, aber unter Folgeerscheinungen leiden. Aber auch unsere Gesellschaft trägt dazu bei“, sagt Überall. So könne man es sich in unserem sozialen Sicherungssystem heute mehr denn je leisten, Schmerzen zu haben, sich eine Art Auszeit zu nehmen und darauf zu warten, dass einem geholfen werde. Auch werden Menschen immer älter, weswegen Schmerzen durch körperlichen Verschleiß häufiger beobachtet werden. 

 

Eine Sonderform des Schmerzes ist der Nervenschmerz. Patienten beschreiben diesen als plötzlich, blitzartig einschießend, wie einen Stromschlag, der zwar nur wenige Sekunden anhält, aber sehr häufig - auch ohne ersichtlichen Auslöser - auftritt. „Grund dafür ist ein kaputter Nerv, der in sich elektrische Kurzschlüsse produziert und Schmerzen verursacht. Ursächlich verantwortlich sind häufig Stoffwechselerkrankungen, wie Diabetes, aber auch Infektionskrankheiten, Alkohol, eine Chemotherapie oder bestimmte Medikamente“, sagt der Arzt. 

 

Schmerzen, die so gut wie jeder kennt, sind Kopfschmerzen. Den Spannungskopfschmerz haben viele Menschen, und er ist meist mit Stress zu begründen. „Mit Entspannung oder auch einer Schmerztablette lässt sich dieser Schmerz meist gut behandeln. Klar abzugrenzen ist er von den meist halbseitigen, stechend pochenden Migräneschmerzen, die oft mit Übelkeit, Erbrechen und Lichtempfindlichkeit einhergehen. Hier benötigen Betroffene meist eine Kombination aus Medikamenten und einigen Stunden Bettruhe, damit es ihnen wieder besser geht“, sagt Überall. 

 

Eine entscheidende Rolle bei jeder Art von Schmerz spielt die Psyche. „Wie wir das Schmerzsignal interpretieren und wie stark wir uns von ihm beeinflussen lassen ist vor allem von unserer Psyche abhängig“, so Überall. „Studien zeigen, wie wichtig die emotionale Zuwendung des Arztes ist. Empathie und Berührungen sollten daher in einer individualisierten Therapie wieder mehr in den Mittelpunkt rücken und Patient und Arzt bei der Behandlung chronischer Schmerzen mehr als Team, denn als Einzelkämpfer agieren.“

Nächster Artikel