Kraft zur Abwehr

Neue Erkenntnisse zeigen das Wesen von Entzündungsprozessen auf. Das hilft insbesondere chronisch Kranken.
Illustration: Karen Obenauf
Dr. Ulrike Schupp Redaktion

Auch wenn es sich manchmal anders anfühlt, nur die wenigsten Viren, Bakterien oder Fremdkörper erreichen ihr Angriffsziel. Zu gut ist das körpereigene Immunsystem, das täglich unzählige „Feinde“ abwehrt. Potenzielle Krankheitserreger werden dabei häufig erst durch eine Entzündungsreaktion vernichtet. So gesehen ist diese Entzündung lebensnotwendig und „gesund“. Problematisch ist es, wenn sie chronisch wird oder ständig neu aufflackert. Die Immunabwehr richtet sich dann auch gegen gesunde Zellen und kann den ganzen Organismus in Mitleidenschaft ziehen. An Erkrankungen wie Rheumatoide Arthritis, Morbus Bechterew, Psoriasis, Allergien oder auch Depressionen und Herz-Kreislauf-Leiden sind in der Regel Entzündungsprozesse beteiligt. In den Industrienationen sind mittlerweile so viele Menschen von komplexen entzündlichen Erkrankungen betroffen, dass Wissenschaftler von einer „Epidemie der Moderne“ sprechen.


Dank neuer Therapiekonzepte und diagnostischer Verfahren steigen für die Betroffenen jedoch die Chancen, zumindest ihre Lebensqualität zu verbessern. Drastisch verändert hat sich dabei auch das Bild von „entzündlichen Prozessen“ als solchen. Federführend beim Blickwechsel ist die fachübergreifende Neuro-Endokrino-Immunologie, die gezeigt hat, dass Immunsystem, Nerven und auch Hormone keinesfalls nur getrennten Regelkreisläufen angehören, sondern komplex vernetzt aufeinander einwirken. Beispielsweise können Stresshormone Entzündungen im Körper verstärken.


Nach neueren Erkenntnissen funktioniert das Immunsystem durch das Zusammenspiel verschiedener Zelltypen, die sich einem hochkomplexen Regelwerk folgend gegenseitig kontrollieren. Proinflammatorische T-Zellen verstärken die Entzündung, etwa wenn ein Virus den Körper angreift. Regulatorische T-Zellen schwächen diese Reaktion im richtigen Augenblick wieder ab. Zentrale Schaltstellen steuern diesen Prozess mit. Ist das Gleichgewicht zwischen den Zelltypen gestört, können sich die entzündungsfördernden Zellen in einer ungesunden Daueraktivität einrichten. Für die einzelnen Entzündungskrankheiten ist zu klären, was genau das Zusammenspiel zwischen den Zelltypen außer Kraft setzt, um dort therapeutisch anzuknüpfen.


Überraschende Erfolge gibt es bereits bei Neurodermitis. Medikamentöse Therapien sollten bislang vor allem Symptome wie Rötungen und Juckreiz unterdrücken. Doch wie Berliner Forscher des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums in Berlin gemeinsam mit Allergologen der Charité herausfanden, war „weniger“ hier offenbar „mehr“. „Die Gabe von zu viel Immunsupressivum ist kontraproduktiv. Sie dämpft die überschießende Abwehrreaktion des Körpers, aber hemmt zugleich auch die Bildung der regulatorischen T-Zellen“, erklärte Professorin Ria Baumgrass gegenüber dem Bundesministerium für Bildung und Forschung.


Unter anderem bei chronischen Darmentzündungen wird deshalb die T-Zell-Regulierung untersucht. Außerdem sollen Schnelltests die Anzahl aktivierter Abwehrzellen bestimmen, um Daueraktivität früher zu erkennen und zu stoppen. Langfristig fehlt den Immunzellen, die unentwegt aktiv sind, nämlich auch die Kraft, echte Angreifer abzuwehren.

Nächster Artikel
Medizin
Februar 2024
Antje Mater lebt mit dem Marfan-Syndrom, einer Seltenen Erkrankung.
Redaktion

Wie mein Vater

Wie es ist, in ständiger Lebensgefahr zu schweben? Die Autorin Antje Mater schildert ihr Leben mit dem Marfan-Syndrom, einer angeborenen seltenen Erkrankung.