Handel der Zukunft

Kaum eine Branche entwickelt sich dynamischer als der digitale Handel. Der Online-Handel boomt, der stationäre Handel gerät unter Druck. Doch schon entstehen neue, spannende Synergien.
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Illustration: Wenran Xu
Klaus Lüber Redaktion

Eigentlich müsste die Münchner Innenstadt rund um den Marienplatz so etwas sein wie das Eldorado des Handels. Zumindest, wenn man sich unter Handel jene Tätigkeit vorstellt, die Menschen schon seit tausenden von Jahren praktizieren: Man trifft sich und tauscht Waren.
Doch etwas ist anders. Immer noch schieben sich Massen von kauflustigen Menschen an Geschäften vorbei. Sie stöbern, schauen hier, schauen da. Aber wenn sie einen Laden verlassen, dann immer seltener mit einer Einkaufstüte in der Hand. Warum auch? Schließlich kann man später zuhause und in Ruhe genau dasselbe online bestellen.


Schon heute wird, mit Ausnahme von Lebensmitteln, fast jeder fünfte Euro im Internethandel gemacht. Der Handelsverband Deutschland (HDE) spricht von einer zunehmenden Normalität in der Nutzung von E-Commerce-Angeboten. Für den Kunden, so drückte es HDE-Geschäftsführer Stefan Genth auf dem Branchentreffen Internet World Anfang des Jahres aus, sei es mittlerweile genauso selbstverständlich, im Netz wie im Laden um die Ecke einzukaufen.


Wenn damit, wie Experten schon seit Jahren sagen, das Sterben des Einzelhandels eingeläutet ist – am Münchner Marienplatz möchte man sich noch nicht so schnell geschlagen geben. Vier Traditionshäuser vor Ort sind nun in die Offensive gegangen und möchten mit eigenen Webshops wieder mehr Kunden in die Läden locken. „Local Commercial Offensive“ nennt sich die Aktion, zu der sich das Betten-Fachgeschäft Bettenrid, das Fashion- und Trachtenhaus Lodenfrey, Sporthaus Schuster und das Kaufhaus Beck am Rathauseck bekennen.
Nun könnte man sich natürlich die Frage stellen, wie man ausgerechnet mit der Programmierung eines Webshops, also der Möglichkeit, eben nicht vor Ort einkaufen zu müssen, dafür sorgen will, dass wieder mehr Menschen in die Läden strömen. Die Antwort liegt in den interessanten Mechanismen einer Kaufentscheidung begründet.

»Der Investitionsbedarf für eine Internetplattform ist immens.«


Es mag so sein, dass immer mehr Handel online stattfindet. Doch was genau hat sich in die Virtualität verlagert? Es ist vor allem der Bezahlvorgang, der berühmte Klick, mit dem man ein Produkt schließlich erwirbt. Doch bis es dazu kommt, spielen reale Produkte in realen Läden sehr wohl eine wichtige Rolle. Zwar sucht und vergleicht man auch im Netz. Doch nach wie vor ist es vielen Kunden wichtig, das, was man kauft, vorher einmal nicht nur virtuell, sondern ganz analog im Laden zu begutachten.


Im Augenblick geht diese Entwicklung zu Lasten des klassischen Ladengeschäfts, das oftmals nur noch die Rolle einer Anprobehalle für Produkte spielt, die man sich dann beim Online-Anbieter bestellt. Wer allerdings selbst einen Webshop betreibt, bietet dem Kunden die mittlerweile so beliebte Kombination aus Online und Offline aus einer Hand. Zum Beispiel, indem man es möglich macht, mittels einer sogenannten Click & Collect Funktion Waren im Netz zu reservieren und sie dann vor Ort anzuprobieren und abzuholen.


Cross-Channel nennt sich dieses Springen zwischen verschiedenen Handelskanälen. Bei der E-Commerce-Offensive am Münchner Marienplatz spielt dies eine wichtige Rolle. Lodenfrey und Sporthaus Schuster experimentieren mit einer Click & Collect-Option, Bettenrid und Beck nutzen mittlerweile das Internet als parallelen Vertriebskanal für zumindest für einen Teil ihres Angebotes, im Branchen-Jargon Multi-Channel genannt. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung zeigt sich Peter Schön, Leiter des Bereiches E-Commerce bei Sporthaus Schuster, durchaus zufrieden: „Wir haben schon jetzt nurmehr 25 Prozent rein stationäre Käufer – alle anderen kaufen bereits kanalübergreifend.“ Und auch Christiane Hoss-Nurminen von Bettenrid hat Positives zu berichten: „Unsere Sortimentsumstellung im Online-Shop hat eine Warenkorbsteigerung von 36 Prozent gebracht.“


So vielversprechend das klingt, daraus nun die erfolgreiche Rettung des deutschen Einzelhandels abzuleiten, wäre allerdings etwas verfrüht. Laut einer aktuellen Studie des HDE sind immer noch zwei Drittel der deutschen Händler nicht mit einem eigenen Shop im Internet präsent. Viele Firmen, so Verbandschef Genth, seien schlicht überfordert. „Der Investitionsbedarf für eine Internetplattform ist immens.“ Hinzu kommt: Was die Schnelligkeit, den Komfort und die Qualität des Internetauftritts angeht, wird ein deutscher Mittelständler immer öfter mit der internationalen Konkurrenz, zum Beispiel aus den USA verglichen. „Ein kleiner Händler ist gar nicht in der Lage, da mitzuhalten“, so Grenth.


Die Einschätzung des HDE-Chefs deckt sich auch mit anderen aktuellen Studien. Laut einer Verbraucherstudie der Beratungsfirma Accenture unter 23.000 Konsumenten weltweit, zeichnen sich gerade deutsche Kunden durch besonders hohe Ansprüche und eine vergleichsweise niedrige Frustrationstoleranz aus. Anbieter, die nicht mit einer einfachen Geschäftsabwicklung, kompetenten Beratung, schnellen Problemlösungen und günstigen Preisen aufwarten können, sind schnell aus dem Rennen. Mehr als jeder Zweite (54 Prozent) hat im letzten Jahr in Deutschland mindestens einem Anbieter den Rücken gekehrt. Am stärksten betroffen waren der Einzelhandel sowie die Mobilfunk- und Telekommunikationsbranche, gefolgt von den Banken.


Wie reagieren die Unternehmen auf diese neue Herausforderung? Noch nicht konsequent genug, findet Sven Drinkuth, Geschäftsführer in der Strategieberatung bei Accenture und Leiter des Bereichs Vertrieb und Kundenservice: „Angesichts der großen Anzahl unzufriedener Kunden könnte man meinen, die Marktteilnehmer würden sich um diese reißen. Allerdings verschlafen viele Unternehmen die Chance, die Bedürfnisse dieses neuen Verbrauchertypus, der ständig online ist, zu bedienen und bestärken durch Untätigkeit deren Wechselbereitschaft noch zusätzlich.“


Die Traditionshäuser am Münchner Marienplatz sind im Augenblick wohl eher die Ausnahme von der Regel. Auf der Messe Internet World im Frühjahr teilten sie ihre Erfahrungen auf einem Diskussionspanel mit der Branche. Dokumentiert wurde das Gespräch leider nicht. Der SZ sagte Rolf Mager von Lodenfrey im Vorfeld: „Ein Blick in die Glaskugel ist schwierig. Wir wissen nicht, wo es hingeht.“

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