Die Zukunft der Industrie

In der Smart Factory in Ostwestfalen wird deutlich, dass auch Industrie 4.0 nicht ohne Menschen auskommen wird.
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Illustration: Ksenia Kostritski
Mirko Heinemann Redaktion

Auf einem Hügel am Rand der Kleinstadt Lemgo in der Nähe von Bielefeld, Nord-rhein-Westfalen, steht die Fabrik der Zukunft. In der Fertigungshalle werden moderne Schreibtischlampen am Fließband produziert. Ein mannshoher Roboter steckt Bauteile in einen Rahmen. Er arbeitet als einer der ersten Industrie-Roboter ohne Schutzkäfig, direkt neben seinem menschlichen Kollegen. Seine Hülle ist mit Schaumstoff gepuffert, damit er niemanden verletzt. Der Arbeiter hält einen Tablet-Computer, der ihm zeigt, worauf er bei der Montage des Bauteils achten muss. Ein anderer Arbeitsplatz ist mit einer Datenbrille ausgestattet. Darin eingespiegelt sieht der Monteur die Bauanleitung. Die Brille zeigt ihm, in welcher Schachtel die richtige Schraube liegt und warnt ihn, wenn er einen Fehler macht.

 

Die SmartFactoryOWL, die Abkürzung steht für Ostwestfalen Lippe, wurde Ende April 2016 der Öffentlichkeit vorgestellt. Als eines von fünf bundesweiten so genannten „Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren“ wird sie vom Bundeswirtschaftsminis-terium unterstützt. In der Region sind zahlreiche produzierende Mittelständler ansässig, etliche davon sind Weltmarktführer in ihrem Bereich. In der Fabrik, einer Einrichtung des Fraunhofer-Anwendungszentrums Industrial Automation, können sie sich darüber informieren, welche Chancen die Digitalisierung für ihr Unternehmen birgt. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, nicht nur Pionier in dem Feld der Industrie 4.0 zu sein, sondern diese Technologien auch in die Unternehmen zu bringen“, erklärt Jürgen Jasperneite, Leiter des Fraunhofer-anwendungszentrums in Lemgo und Initiator der SmartFactoryOWL. „Auf Projektflächen besteht die Möglichkeit, Maschinen oder Anlagenteile für einen Pilotbetrieb temporär aufzubauen, mit Industrie 4.0-Lösungsbausteinen auszustatten und auf Herz und Nieren zu testen. Damit werden Potenziale und notwendige Investitionsentscheidungen frühzeitig bewertbar.“ 

 

Kameras an der Decke zeichnen alle Bewegungen von Menschen und Maschinen in der Halle auf und senden sie an den Zentralcomputer. So kann jeder Fertigungsschritt erfasst und analysiert werden. In alle Bauteile wurde ein Mikrochip implantiert. Sie kommunizieren also direkt mit den Maschinen, die sie produzieren. Im Leitstand, hinter einer Glasscheibe mit Blick in die Halle, kann der Ingenieur auf Knopfdruck jeden Schritt der Produktion überwachen. Eine Software berechnet, wie viel Zeit und Energie die Fertigung benötigt und an welchen Stellen man sie effizienter machen kann.

 

Alle Aspekte von „Industrie 4.0“, der digitalen Produktion, sollen in der  SmartFactoryOWL erfahrbar werden. Und das umfasse viel mehr als nur eine weitgehend automatisierte Produktion, so Jasperneite. Industrie 4.0 habe aus seiner Sicht drei Aspekte: „Wir haben die intelligenten Produkte, die intelligente Produktion und die digitalen Geschäftsmodelle.“ Das bedeutet, die industrielle Fertigung wird immer flexibler. Kunden, die eine Schreibtischlampe kaufen möchten, können über das Internet ein Exemplar nach ihren Vorlieben bestellen. Der Befehl geht direkt an die Maschine, die automatisch das gewünschte Produkt konstruiert und in der Fertigungsstraße herstellt. Dieses individualisierte Produkt kann dann direkt an den Kunden vertrieben werden. Industrie 4.0 umfasst also die gesamte Wertschöpfungskette. 

 

»Die menschenleere Fabrik ist weder erstrebenswert noch konkurrenzfähig.«

 

Produzierende Unternehmen werden mit Hilfe von Industrie 4.0 einen großen Sprung machen. Sie werden noch hochwertigere Produkte noch preiswerter und noch schneller herstellen können. Auch die Arbeitswelt wird sich verändern. Manche sehen bereits das Zeitalter der „menschenleeren Fabrik“ heraufziehen. Dass diese Vision für manche Arbeitgeber nicht nur eine erstrebenswerte Utopie ist, sondern dass sie mancherorts schon verwirklicht wurde, hat die Volkswirtschaftlerin und Philosophin Christine Ax erfahren. Als sie mit einem befreundeten Unternehmer sprach, der seine Fertigung vollständig automatisiert hatte, erlebte sie ihn vollständig euphorisiert: „Er hat sich voller Freude eine Viertelstunde in die dunkle Fabrik gesetzt.“ 

 

Christine Ax ist von den Potenzialen der digitalisierten Industrie hin- und hergerissen – aber bereit, sich auf das Experiment einzulassen. Es sei schon immer ein alter Menschheitstraum gewesen, selbstbestimmt arbeiten und leben zu können. „Wenn uns in Zukunft vielleicht in manchen Bereichen die Maschinen immer mehr abnehmen, kann das auch die Realisierung dieses Traums sein“, sagt sie und ergänzt: „Wenn wir damit klug umgehen.“ Nur: Was wird aus den Arbeitskräften in der Industrie, wenn, wie eine Studie des Weltwirtschaftsforums nahelegt, die Digitalisierung weltweit fünf Millionen Jobs kosten wird? 

Jürgen Jasperneite hält dagegen. Die menschenleere Fabrik, so der Ingenieur, sei im Hi-Tech-Land Deutschland, wo innovatives Denken gefragt ist, weder erstrebenswert noch konkurrenzfähig. Zumindest in der Montage von komplexen Geräten werden Roboter den Menschen nicht ersetzen können. Und dort, wo einfache Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden, sind wiederum Menschen mit ihren kognitiven und kreativen Fähigkeiten gefragt. Jobs werde es daher auch in der Industrie 4.0. immer geben, davon ist Jasperneite überzeugt. Aber die Aufgaben werden anspruchsvoller. Arbeiter am Band bekommen keine festen Arbeitsaufträge, die ein Vorgesetzter für sie plant, sondern müssen zunehmend flexibler und kreativer werden. Der Mensch, so Jasperneite, werde auch in Zukunft in der Industrie die Hauptrolle spielen.

 

Das sind gute Nachrichten. Denn nicht zuletzt hängt auch die gesellschaftliche Akzeptanz von Industrie 4.0 eng mit der Frage zusammen, wie sie die Arbeitswelt verändern wird. „Während zu Beginn viele Projekte aus dem Bereich Industrie 4.0 sehr technologisch geprägt waren, rücken jetzt zunehmend Fragen der Arbeitsgestaltung, der Technologie-Akzeptanz und der Technologie-Verträglichkeit in den Vordergrund“, so Jasperneite. Dass diese Fragen die Industrialisierung seit ihrem Anbeginn begleiten, zeigen die Schriften des britischen Philosophen und Ingenieurs William Morris. Er hatte bereits im 19. Jahrhundert gefordert, dass Technik im Arbeitsprozess nicht vorrangig der Effizienz, sondern vor allem der Verbesserung der Arbeitsqualität dienen solle. Die digitale Fabrik des 21. Jahrhundert hat das Potenzial, beiden Anforderungen gerecht zu werden.

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