Vorreiter und Nachzügler

Die Digitalisierung ist für viele Unternehmen eine echte Chance und wird ihre Wettbewerbsfähigkeit massiv verbessern. Dessen ungeachtet zögern viele Dienstleister wie auch deren Auftraggeber die Vernetzung ihrer Prozesse immer weiter hinaus.
Illustration: Jan Klöthe
Axel Novak Redaktion

Aus diesem Teufelskreis kommen sie nur schwer heraus. Zum Beispiel in der Logistik.

 

Kaum etwas verdeutlicht den Abstand zwischen Theorie und Praxis so sehr wie ein Tag auf der Messe Transport Logistic in München. Während Manager des einen Unternehmens visionäre Fahrzeuge der Zukunft highlighten und clever konzipierte Supply Chains präsentieren, diskutieren andere die Mühen des Alltags. Im Forum „Kampf an der Rampe!“ beispielsweise referiert Bert Kloppert vom Stahlhersteller Thyssen Steel Europe (TSE) darüber, wie gut organisierte Zeitfenster teure Standzeiten von Lastwagen im Werk vermeiden.

Kloppert, zuständig für den Frachteinkauf Bahn und die Weiterentwicklung der Werkslogistik, stellt „Digitale Logistik im Torprojekt“ vor. Es geht darum, den Zu- und Abfluss von Fracht in Echtzeit zu steuern und zu kontrollieren. Kurz: zu wissen, wer sich wann wo im Duisburger Werk befindet, das immerhin die Größe des Fürstentums Monaco hat. Bei geschätzten 21.000 Ein-und Ausfahrten am Tag keine leichte Aufgabe.

Dafür hat der Stahlhersteller massiv in digitale Prozesse investiert: QR-Codes, digitale Torkontrollscheine, Kennzeichenerkennung und intelligente Ampel- und Schrankenschaltungen sorgen dafür, dass pünktliche Fahrer in Windeseile wieder vom Hof sind. Nun will TSE die Lieferungen noch besser steuern. „Künftig wollen wir schon im Vorfeld wissen, ob Fahrzeuge im Zulauf die gebuchten Slots halten können“, erläutert Kloppert. Möglich wäre das, wenn der Stahlhersteller sich mit den Zulieferern vernetzen könnte, also Zugriff auf deren Telematik bekäme. Dann könnte er erkennen, welches Fahrzeug pünktlich ist und welcher Lastwagen seinen gebuchten Slot nicht halten kann, weil die Autobahn zur Dauerbaustelle und -staustelle geworden ist. Doch Thyssen Steel Europe ist noch einige Jahre von dieser Vision entfernt, die in den Hallen der Münchner Messe doch so erreichbar wirkt.

Der Grund ist einfach: Nicht nur der Datenschutz, sondern auch technische Hürden stehen dieser vernetzen Zufahrtssteuerung im Weg. Viele Zulieferer sind einfach noch nicht so weit, dass sie die geforderten digitalen Daten liefern können.
 

Die schöne vernetzte Welt

 

Dabei besteht die neue Welt der Produktion aus intelligenten, sich selbst steuernden und miteinander vernetzten Systemen, welche die klassischen Strukturen mit ihren zentralen Entscheidungen ersetzen. Die vollautomatische Fertigung wird Alltag, wenn eine intelligente Datenaufnahme, -speicherung und -analyse sowie die Verteilung von Informationen durch Mensch und Maschine funktionieren.


Dann werden die smarten Fabriken Wirklichkeit,  mit denen Unternehmen nahezu in Echtzeit auf veränderte Anforderungen des Marktes, der Kunden oder einfach der Produktionsabläufe reagieren können. Zum Beispiel in der Automobilindustrie. Sie gilt ja nicht nur als die innovativste Branche, sondern aufgrund ihrer besonders ausgefeilten Produktion bei einem gleichzeitigen Massenmarkt als ein besonderes Beispiel für volatile Anforderungen der Märkte. Die Hersteller und ihre Zulieferer stehen vor einer kaum noch zu bewältigenden Komplexität bei Bestandteilen, Zusatzelementen, technischen Leistungsdaten, Farben und anderem Zubehör. Das erhöht die logistische Komplexität, der sich alle Partner der Original Equipment Manufacturer oder OEM – so heißen die großen Hersteller – unterwerfen müssen, vom einfachen Zulieferer bis zum Just-in-Sequence-Logistiker.

 

Abschied vom Fließband

 

Weitgehend unbemerkt verabschieden sich Autohersteller vom Fließband, das vor mehr als einem Jahrhundert den Siegeszug des Autos möglich machte. Stattdessen entstehen heute neue, modulare Montageformen mit einer dynamischen Taktung: Durchdigitalisierte Prozesse vermeiden geringste Verzögerungen und fertigen sämtliche Fahrzeuge gleichmäßig und fließend. Steuerungssysteme überwachen die Arbeitsfortschritte und Anlieferungen. Komplexe Liefersysteme verbinden die einzelnen Produktionsstufen im Wertschöpfungsprozess zu einem Netzwerk, das die Herstellung des Gesamtproduktes erst ermöglicht.


Weil alle relevanten Daten für alle Beteiligten sofort und jederzeit verfügbar sind, ist das Produktionsprinzip der „Mass Customization“ mit seinen hohen Anforderungen an die Logistik erfüllt: Individuelle Kundenwünsche bis zur „Losgröße 1“ können in Echtzeit wirtschaftlich gefertigt werden. Dieser Umbau der Produktion hat allerdings zwei Konsequenzen: Echtzeitsteuerung kann nicht einseitig vorgegeben werden. Gerade weil die Automobilindustrie eine sehr geringe Fertigungstiefe hat, ist es wichtig, dass die beteiligten Unternehmen als wirkliche Partner in den Netzwerkstrukturen zusammenarbeiten können.


Zweitens müssen alle Beteiligten der Liefer- und Produktionskette in dieser digitalen Wirklichkeit in der Lage sein, relevante Daten zu erheben und zur Verfügung stellen zu können.

 

Digitale Herausforderungen

 

Doch gerade Letzteres ist für viele kleine und mittlere Unternehmen ein Problem. Sie wissen zwar: Die Digitalisierung verändert die Logistik so stark wie kaum eine Erfindung seit dem Container in den 1960er Jahren. Digitale Routenplanung, Künstliche Intelligenz, autonome Lkw oder Drohnen stehen für neue Transporte, Umschlag- und Lagerleistungen. Vier von fünf Unternehmen in Deutschland mit logistischen Prozessen sagen, dass die Digitalisierung nach Treibstoffkosten und Mautgebühren die größte Herausforderung für sie ist, so eine Umfrage im Auftrag des Digitalverbandes Bitkom. Und die weit überwiegende Mehrheit er Unternehmen stimmt der Aussage zu, dass digitale Prozesse Transporte schneller machen, Kosten senken, Fehler eliminieren und umweltfreundlicher sind.  


Doch der Durchdringungsgrad digitaler Techniken ist noch gering, höchstens in den Warehouses und Lagerhallen haben sie Einzug gehalten: „Vor allem Technologien, die schon einige Jahre auf dem Markt sind, sind in den Lagerhallen im Praxiseinsatz“, so Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. Warehouse Management Systeme, RFID-Chips, Tablet Computer, Smartphones oder elektronische Dokumente statt Zettel und Klemmbrett. „Wir sehen derzeit unter anderem ein sehr großes Interesse an elektronischen Frachtbegleitdokumenten. Hier bremsen nicht die Unternehmen, es bremst die Politik. Der Gesetzgeber zwingt die Logistiker, immer kiloschwere Aktenordner mit Papierformularen mitzuführen“, so Rohleder. „Frachtpapiere gehören abgeschafft und durch den elektronischen Frachtbrief ersetzt.“

 

Fehlende Liquidität

Ein weiterer Grund für die geringe digitale Durchdringung der Branche, die zum überwiegenden Teil aus Mittelständlern besteht, ist, dass es vielen Unternehmen an der nötigen Liquidität mangelt, um in neue Technologien zu investieren. Es sind vor allem die großen Player, die mit aufsehenerregenden Pilotversuchen auf sich aufmerksam machen und den Eindruck bestärken, digitale Logistik 4.0 sei schon Wirklichkeit.


Doch bei den kleinen und mittelständisch geprägten Unternehmen sieht die Sache anders aus, zum Beispiel bei digitalen Services rund um die Fahrzeugflotte. 2015 zählte das Bundesamt für Güterverkehr mehr als 45.000 gewerbliche Transportdienstleister in Deutschland. Die überwiegende Anzahl dieser Dienstleister – 36.000 – steuerte eine Flotte von weniger als zehn Fahrzeugen. Jeder vierte besaß gar nur einen Lastwagen.


Vielen Kleinflottenbetreibern kämen digitale Verfahren in der Logistik entgegen. Erst digitale Daten und Künstliche Intelligenz machen es möglich, dass kleine Spediteure ihre wenigen Fahrzeuge besser auslasten, wenn Buchungen für Frachtraum über digitale Frachtbörsen oder Plattformen einlaufen.


Doch die Mühen der Digitalisierung sind für diese Kleinflottenbetreiber groß. Nur wenige nutzen digitale Dienstleistungen für ihre Fahrzeugflotte oder für Transportaufgaben, hat RIO, der digitale Zweig der Lkw-Herstellers Traton festgestellt. Häufig arbeiten die Betreiber noch per Telefon und Fax – obwohl die gesetzlichen Anforderungen an Dokumentation und Organisation zunehmen.

 

Gespaltener Mittelstand

 

Und das liegt auch an den Kunden, den oft mittelständischen Verladern, die ihrerseits noch viel zu oft in klassischen Prozessen denken und arbeiten. Sicher, unter den 3,76 Millionen Mittelständlern in Deutschland haben immer mehr in den vergangenen Jahren Digitalisierungsprojekte erfolgreich abgeschlossen: Mittlerweile setzt jedes dritte kleinen und mittleren Unternehmen hierzulande neue oder verbesserte digitale Technologien für Prozesse, Produkte und Services oder Geschäftsabläufe ein, hat die Analyse von KfW Research ergeben.


Doch die Spaltung zwischen den großen, digitalen Enablern und den kleineren, Leistungsschwächeren wächst auch im Mittelstand: Je größer ein Unternehmen, umso häufiger setzt es Digitalisierungsprojekte um und umso mehr investiert es dafür.


Das ist nicht nur für die KfW ein Grund zur Sorge. Fehlende Digitalisierung hat nicht nur Auswirkungen auf die Produktion der großen Unternehmen: Es dürfte noch dauern, bis der Stahlhersteller Thyssen Steel Europe die vollständige Transparenz im Zulauf realisieren kann. Mangelnde Innovationsfähigkeit und veraltete Technik bedrohen die Wettbewerbsfähigkeit des Mittelstands, des Rückgrats der deutschen Wirtschaft.